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Re: Zukunft des Internets



Lieber Herr Homann,
niemand hat etwas gegen Prognosen. Auch ich nicht. Nur muss man fragen, was
sie wert sind. Und da kommt es auf den Kontext an. So kann man in
affirmativer Absicht prognostizieren oder in kritischer. Die Beitraege, auf
die Sie hingewiesen haben, sind aus einer affirmativen Haltung heraus
geschrieben, wobei man sich natuerlich ueber gewisse Details uneinig ist,
einig aber darin, dass das alles irgendwie der richtige Weg ist und
irgendwie schon werden wird. Man mag das spannend finden, muss es aber
nicht. Denn die interessanten Fragen tauchen ja erst auf, wenn man sich auf
eine im besten Sinne kritische Ebene begibt: Ist das Internet ueberhaupt
ein Medium, wofuer viele es halten? Ist es das vielgepriesene Vehikel fuer
mehr Demokratie und informationelle Selbstbestimmung, oder ist es nicht
vielmehr ein neues kommerzielles Distributionsmittel? Wem nuetzt es dann?
Den Bibliothekaren, die das glauben und hoffen, oder (ich verkuerze) Bill
Gates, der die Milliarden Dollar hat und bald noch mehr haben wird, weil er
die Kommerzialisierung des Internet konsequent betreibt? Ebensolche Fragen
habe ich vermisst und fand darum die Beitraege weniger spannend als Sie.
Das hat nun allerdings nichts mit einer Daemonisierung zu tun, wie Sie sie
meiner Boergermoor-Umdichtung zu entnehmen meinten. Obwohl ich mich
allerdings bisweilen des Eindrucks nicht erwehren kann, dass ein gewisses
Moment des Zwanghaften ueber der bibliothekarischen Internet-Begeisterung
liegt (man will endlich modern, besser noch postmodern sein).
Und hier kommt die Differenz zwischen den von Ihnen genannten Prognosen und
den griechischen Orakeln sehr schoen in den Blick. Die griechischen Orakel
waren naemlich alles andere als affirmativ, sie waren dunkel und
interpretationsbeduerftig. Und dabei ging es ihnen immer um eines, trotz
aller Dunkelheit: zu erkennen zu geben, dass das Handeln, auch wenn es in
bester Absicht geschieht, scheitern kann, weil man sich in den Bedingungen
seines Handelns versieht. Das eben ist der kritische Moment, den man
festhalten sollte. Die Affirmation ueberspringt das hingegen, um desto
schneller handeln zu koennen. Das Scheitern liegt ja immer in der Zukunft
und muss im froehlichen Hier und Heute nicht stoeren. Alles bequem fuer DM
5 in der Reclam-Ausgabe von Sophokles Koenig Oedipus nachzulesen.
Gruesse aus dem Sueden der Republik
U. Jochum


At 23:41 18.05.1998 +0200, you wrote:
>Liebe Liste,
>
>was die Zustaende in Boergermoor nach 33 mit moderner IuK-Basistechnologie 
>zu tun haben, wird Herr Dr. Jochum sicher erklaeren. Vielleicht ist 
>das ganze Thema Internet mit Angst besetzt, dass er es  
>daemonisiert? Oder denkt Herr Dr. Jochum beim Internet an den
>Philosophen Max Horkheimer, der eine ,,Totalverwaltung" 
>fuerchtet¹, was Herrn Dr. Jochum wiederum zu obiger Assoziation
>veranlasst?
>
>
> |  Kein Fünkchen, auch nicht das kleinste, von Kritik und Reflexion. 
> |  Statt dessen Trendberichte.
>
>Ist doch auch was wert. Prognosen sind nicht erst seit dem Orakel von
>Delphi von allgemeinem Interesse, auch wenn es bei den Texten nicht um 
>appolinische Anbetung geht - wie sie vielleicht Herr Jochum erwartet -  
>sondern um soetwas profanes wie das Internet. 
>
>Die einzelnen Artikel vermitteln unterschiedliche Perspektiven, 
>widersprechen sich zum Teil; Profis beschreiben erwartete Entwicklungen 
>fuer die Zukunft. Fand ich spannend.
>
>Viele Gruesse,
>      Benedikt Homann.
>
>¹
>z.B. nachzulesen z.B. im Spiegel-Gespraech ,,Was wir ,Sinn' nennen, wird ver-
>schwinden", Zeitschrift ,,Der Spiegel", Nr. 1-2, 1970, S. 84, rechte Spalte, 
>unten
>
>
>


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.