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Re: Bibliothekswissenschaft



Liebe Kolleginnen und Kollegen,
natuerlich kann es eine Bibliothekswissenschaft geben. Dass es sie nicht
geben kann, wird -- so jetzt wieder Thomas Hilberer -- zumeist daran
festgemacht, dass die bibliothekarische Arbeit eine Praxis sei (Hilberer:
ein 'Handwerk'), wobei man implizit unterstellt, dass eine Praxis in sich
selbst laufen koenne und nicht reflektiert werden muesse.
Unter diesen Voraussetzungen koennte es keine Medizin als Wissenschaft
geben, denn auch die Medizin ist -- wenn man das, was der Arzt tut, als
Massstab nimmt -- eine Praxis. Ebenso wie etwa auch die
Ingenieurswissenschaft dann eine Praxis waere (man baut halt Bruecken). Der
Fehler in diesem Argument ist offensichtlich: Man trennt nicht zwischen der
Praxis und der Reflexion auf diese Praxis. Wissenschaft ist aber genau dann
Wissenschaft, wenn sie das, was ist, reflektiert, wobei in der Moderne
hinzu kommt, dass sie das in einer institutionalisierten Form tut: als
Fakultaet, Institut usw.
Das laesst sich nun leicht auf die Bibliothekswissenschaft uebertragen: Die
Katalogisierung als Taetigkeit ist natuerlich eine Praxis, die Regeln
anwendet, etwa Regeln ueber die Ansetzung von Verfassernamen in Katalogen.
Die Regeln selbst sind jedoch nur Regeln, wenn sie reflektiert wurden. Es
muss daher VOR der Praxis ausgemacht sein, was ein Verfasser ueberhaupt
ist, welche Namensbestandteile relevant sind, was ueberhaupt als Eigenname
gelten soll usw. Dies zu reflektieren, gehoert nicht mehr der Praxis zu,
sondern ist Theorie und steht damit prinzipiell einer wissenschaftlichen
Behandlung offen.
Ein gelegentlich geaeusserter weiterer Einwand ist, dass die Bibliothek
kein einheitlicher Gegenstand sei, der das Zentrum einer Wissenschaft
bilden koenne. Dann muss man fragen: Was ist der Gegenstand der Medizin?
Was ist der Gegenstand der Pflegewissenschaft? Was ist der Gegenstand der
Germanistik? In all diesen Faellen zeigt sich, dass auch bei diesen
institutionalisierten Wissenschaft kein einheitlicher Gegenstand vorliegt,
der als Zentrum die darauf reflektierende Wissenschaft formiert. Die
Germanistik z.B. gliedert sich grob in eine neuere Literaturwissenschaft,
die mit der zur Germanistik gehoerenden deutschen Sprachwissenschaft nichts
zu tun hat (weder auf der Ebene des Objekts noch auf der Ebene der Methoden
usw.), die beide mit der ebenfalls zur Germanistik gehoerenden Mediaevistik
wiederum nichts tu tun haben; die Pflegewissenschaft untersucht sowohl die
sozialen und persoenlichen Verhaeltnisse der der Pflege ueberlassenen
Menschen wie z.B. oekonomische Fragen der Pflegefinanzierung. Und will man
behaupten, die Medizin sei eine Wissenschaft vom kranken Menschen, wo doch
die einen sich mit den Knochen, andere sich mit Organen, wieder andere sich
mit Genen beschaeftigen -- und zwar so, dass der Mensch als einheitliches
Objekt dabei im Grunde laengst keine Rolle mehr spielt?
Kurz: Nimmt man das zusammen -- die Differenz von Theorie und Praxis wie
auch die Tatsache, dass eine Wissenschaft kein einheitliches Obkekt braucht
--, dann ist eine Bibliothekswissenschaft natuerlich moeglich.
Stellt sich noch die Frage, warum es sie nicht gibt. Diese Frage ist eine
empirische, auf die es viele Antworten gibt. Eine Antwort liegt mit
Sicherheit darin, dass das hier analysierte Fehlurteil ueber die
Moeglichkeit einer Bibliothekswissenschaft natuerlich keinen Handlungsdruck
zur Institutionalisierung einer solchen Wissenschaft freisetzt. Das aber
ist nicht nur bedauerlich fuer die nicht-existierende
Bibliothekswissenschaft, es ist vor allem bedauerlich fuer die Praxis, die
dadurch schlicht und einfach in der Luft haengt.
Schliesslich: Natuerlich gibt es auch jetzt schon eine
Bibliothekswissenschaft, wenn auch nicht oder nur unzureichen in
institutionalisierter Form. Damit meine ich nicht nur das entsprechende
Institut an der Humboldt-Universitaet, sondern damit meine ich auch den
Diskurs, wie er sich in unsren Fachzeitschriften entfaltet. Das ist immer
dort wissenschaftlich, wo es sich von der Mitteilung einer reinen Praxis
loest und darueber zu reflektieren beginnt. Dass viele Bibliothekare das
ignorieren, spricht nicht gegen diesen Diskurs, sondern gegen die diesen
Diskurs ignorierenden Bibliothekare.
Zum Schluss noch: Es gibt einen schoenen Text von Kant, der ueber den Satz
reflektiert: Was in der Theorie richtig ist, taugt nicht fuer die Praxis.
Kant zeigt darin, wie falsch das ist. Vielleicht sollte man diesen text
endlich einmal zur Kenntnis nehmen. Und noch etwas: Wer auch nur
irgendeinen der Dialoge Platons aufschlaegt, wird sich rasch darueber
orientieren koennen, dass Sokrates nichts anderes tut, als zu fragen, was
einer denn zu tun meint, um ihn damit zu konfrontieren, dass er gar nicht
weiss, was er tut, weil er nicht zureichend darueber nachgedacht hat. Damit
beginnt das philosophische Fragen im Abendland. Wir sollten uns als
Bibliothekare nicht duemmer stellen.
Schoene Gruesse an alle Bibliothekspratiker
Ihr
U. Jochum





At 18:47 15.01.1998 +0100, you wrote:
>Liebe Kolleginnen und Kolllegen
>
>At 18:03 15.01.98 +0100 Heinz Marloth wrote:
>
>> immer noch steht
>>die behauptung von thomas hilberer im raum:
>>   "eine bibliothekswissenschaft - dies nur am rande gesagt - gibt es
>>nicht; es kann sie sowenig geben wie eine wissenschaft etwa von der
>>verwaltung eines einwohnermeldeamtes oder vom betrieb eines gross-
>>kaufhauses. die bibliothekarische taetigkeit ist ... ein "handwerk" ...
>>[bibliotheksdienst 6/1991, s. 952]
>
>Dass Herr Hilberer das erkannt hat, ueberrascht mich ueberhaupt nicht -
>hoechstens, dass er schon mit vergleichsweise jungen Jahren die Sache so
>klar gesehen und sich nicht gescheut hat, es auch auszusprechen. Ich denke,
>noch andere Leute mit mehr Jahren auf dem Buckel (und entsprechend staerker
>verkrustet) werden es so sehen. 
>
>In meinem Alter, verknoechert wie ich bin, scheue ich mich nicht
>auszusprechen, dass ich mir den einen oder anderen Wissenschaftler
>vorstellen kann, den ich weder mir als Kollegen noch einer Bibliothek als
>Mitarbeiter wuenschen moechte.
>
>Beste Gruesse
>
>Otto Weippert
>
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 Dr. Uwe Jochum
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