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MediaLab und Negropontes Medientraeume



Lieber Inetbib-Listler,
Herr Marloth hat einen interessanten Passus von Negroponte ins Netz
geworfen, der so natuerlich nicht stehen bleiben kann, denn das Zitat
suggeriert, es sei gleichgueltig, wo Woerter stehen, ob auf Pergament,
Papier oder auf Bildschirmen. Wichtig sei alleine der Inhalt oder, mit dem
Kanzler zu sprechen, was hinten rauskommt. Das ist aber aus mehreren
Gruenden falsch.
1) Woerter kommen ausser in der gesprochenen Sprache, wo sie vergaenglicher
Schall sind,  nur als Zeichen einer Schrift vor, die sich in einen
Zeichentraeger eingeschrieben hat. Die Frage muss daher lauten, ob jeder
Zeichentraeger auch ein adaequates Medium für jede Art von Mitteilung von
Zeichen ist. Die Ueberlegenheit der Buchform aus Papier, die auf den
mittelalterlichen Kodex zurueckgeht, liegt aber zunaechst in einer optimalen
Beherrschung langer Texte (Zeichenketten) auf wenig Raum. Die
dreidimensionale Ausdehnung von Schrift ermoeglicht ausserdem das, was man
so leichthin tut, ohne darueber nachzudenken: man kann zwei Buecher
nebeneinanderlegen und vergleichen, man kann mit verschiedenen Buchzeichen
die Dreidimensionalitaet des Buches nutzen, um Textbezuege herzustellen usw.
Und das heisst, dass das Buch durch seine Raeumlichkeit Oerter fuer Texte
schafft: man kann wissen, wo was steht, und dieses Wo ist genau
lokalisierbar. Daher ist ueberall dort, wo reflektiert wird, das Buch das
optimale Medium.
2) Bildschirme dagegen sind flach. Ihre Zweidimensionalität schafft keinen
Raum. Die Hypertextverfahren sind deshalb nichts anderes als der amuesante
Versuch, die Raeumlichkeit des dreidimensionalen Buches auf ein
zweidimensionales Medium zu uebertragen, was natuerlich unmoeglich ist. Das
Ergebnis ist, dass im Grunde niemand laengere Texte auf dem Bildschirm lesen
will/kann, weil sie sich dort nur schwer beherrschen lassen. Deshalb der
steigende Papierverbrauch dank PCs: Erst der Papierausdruck und damit die
Ueberführung des zweidimensionalen Bildschirmtextes in die
Dreidimensionalität schafft wieder Lesbarkeit.
3) Das Avantgardeargument ist natuerlich ein 60er/70er-Jahre-Nachklang. Als
sei Innovation als solche (und was waere das?) irgendwie erstrebenswert. Das
verbindet sich seither, verstaerkt natuerlich durch Marshall McLuhans
Medientheorie, mit demokratischem Pathos, das auch die amerikanische
Regierung zu der irrigen Ansicht treibt, die Neuen Medien seien irgendwie
demokratischer als die alten. Nun hat sich die Avantgarde aber allenthalben
totgelaufen, und nur der Informationssektor scheint ein bislang unbedrohtes
Refugium der Avantgardisten zu sein. Dabei erleben wir schon laengst die
Kommerzialisierung dieses Sektors, und wer schlau war, arbeitet eh fuer Bill
Gates. Dagegen helfen auch keine hilflosen Appelle, die eine
Demokratisierung des Mediums gegen die allfaellige Kommerzialisierung
einklagen. Das Medium ist eben so: in der Struktur irgendwas zwischen
Werbefernsehen, Schnellsuche und Anzeige. Jedenfalls kein Reflexionsmedium.
Und daher auch kein Lektueremedium im emphatischen Sinne.
4) Wers empirisch mag: Es gibt Untersuchungen, wonach der typische
Internet-Nutzer so um die 30 Jahre alt ist, maennlich und besser gebildet
als der Durchschnitt der Bevoelkerung. Und es gibt Untersuchungen, wonach im
Internet niemand mehr als zwei Bildschirmseiten liest. Drum hoer auch ich
hier auf.
5) Wer mehr dazu lesen will, kann ja die einschlaegigen Fachzeitschriften
lesen, z.B. die bibliothekarischen (und nicht immer nur die NfD). Dann muss
man sich laengere reflektierende Texte auch nicht umstaendlich ausdrucken.
Uwe Jochum

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 Dr. Uwe Jochum
 Fachreferent
 Universität Konstanz
 Bibliothek
 78461 Konstanz
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