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Elektronische Pruefungsarbeiten



Herbert Woeske wrote:

> Liebe KollegInnen,
> 
> als jemand, der seit fast 20 Jahren eine Chemie-Bibliothek verwaltet,
> finde ich diese Diskussion aeusserst anregend und setze grosse Hoffnungen in
> diese Entwicklung. Ich muss nicht nur Dissertationen, sondern auch
> Diplom- und Staatsexamensarbeiten in meiner Bibliothek aufbewahren.
> Tatsaechlich ist es so, dass viele Arbeiten nach der Abgabe nie wieder
> gelesen werden und man koennte sie als "Altpapier" bezeichnen.
> Leider ist es aber nach guter Murphy-Regel so, dass gerade die Arbeit
> dringend benoetigt und gesucht wird, die aus dunklen Gruenden ("natuerlicher Schwund",
> verstellt, etc. ...) nicht aufzufinden ist. Es bedarf nahezu hellseherischer
> Faehigkeiten, um zum Zeitpunkt der Abgabe schon die spaetere Bedeutung
> einer Arbeit zu erkennen. Deshalb muessen wir wohl oder uebel alles sammeln,
> was abgeliefert wird.
> Nebenbei bemerkt gibt es auch unter unseren Absolventen immer wieder Kandidaten,
> die sich - aus welchen Gruenden auch immer ("Duennbrettbohrer", Plagiatoren, ...)
> - beharrlich weigern, ein Pflichtexemplar ihrer Hochschulschrift in der
> Instituts-Bibliothek abzugeben und damit den kritischen Augen der Oeffentlichkeit
> zugaenglich zu machen.
> Trotzdem stehe ich vor dem Problem, dass ich eine "Praesenzbibliothek" verwalte,
> und unsere Diplom- und Staatsexamensarbeiten nur ausnahmsweise ausleihen darf,
> obwohl sich darunter auch hervorragende Werke befinden. Deshalb hoffe ich, dass
> auch diese Arbeiten eines Tages ins Netz gesetzt und somit allen Interessenten
> leicht zugaenglich gemacht werden koennen.
> 
> Mit besten Gruessen
> H. Woeske (Dipl.-Bibl.)

Liebe Liste,
Herr Woeske spricht das IMHO grosse Problem der Pruefungsarbeiten ohne
Druckpflicht neben den Dissertationen an (Diplomarbeiten,
Magisterarbeiten, Habilitationen). Es beschaeftigt mich seit 1989, und
auch ich setze einige Hoffnung in das Internet, denn die derzeitige
Praxis der Bibliotheken und Universitaetsarchive wuerde ich als voellig
unbefriedigend bezeichnen. Meines Erachtens fehlt schlicht und einfach
(vor allem in den eigentlich zustaendigen Universitaetsbibliotheken) ein
Problembewusstsein auf diesem Feld, weil nach wie vor eine empirisch
durch nichts begruendete arrogante Einschaetzung dieser Arbeiten als
wertlos vorherrscht.

Es stimmt schlicht und einfach nicht, wenn Lutz Heusinger schreibt:
"Daß der Inhalt sehr guter Magisterarbeiten in der Regel einige Jahre
später dank des Druckzwangs für Dissertationen doch noch das
Licht der Öffentlichkeit erblickt, darf als bekannt vorausgesetzt
werden."
Zitat aus: http://fotomr.uni-marburg.de/for.htm

Magisterarbeiten vor allem deshalb nicht zu sammeln, weil damit dem
"ueberzogenen Aufwand" (Heusinger) bei der Erstellung vorgebeugt werden
koennte, vermischt (IMHO fragwuerdiges) hochschulpolitisches Raesonieren
und die ueberfaellige Debatte zur Archivierungspflicht der
Bibliothekare.
Dass zwar die mieseste Familiengeschichte im Selbstverlag dem
Pflichtexemplarrecht unterfaellt, nicht aber solche Pruefungsarbeiten,
will mir ganz und gar nicht einleuchten.

Fuer die Geisteswissenschaften und insbesondere die
Geschichtswissenschaft, fuer die ich mir ein Urteil erlauben kann,
wuerde ich von einem nicht zu vernachlaessigenden Anteil von wichtigen
und weiterfuehrenden Magisterarbeiten, die (aus welchen Gruenden auch
immer) nicht zum Druck gelangen, ausgehen. So ist die (verfehlte)
Pflichtexemplar-Regelung des Landesarchivgesetzes von Baden-Wuerttemberg
hinsichtlich ihrer Erstreckung auf unveroeffentlichte Schriftwerke
ausdruecklich mit dem besonderen Wert von "Examensarbeiten" fuer die
Erschliessung des Archivguts begruendet worden (vgl.
Bannasch/Maisch/Richter, Archivrecht in Baden-Wuerttemberg, 1990, S.
156).

Da in den Pruefungsordnungen kaum einmal eine Abgabepflicht normiert ist
(abgesehen vom juristischen Problem der fehlenden gesetzlichen Grundlage
- die gibt es nur fuer Disssertationen), ist bereits die Sicherung eines
einzigen dauerhaft aufbewahrten Exemplars nicht gewaehrleistet, denn
Universitaetsarchive werfen die ueber die amtlichen Akten zu ihnen
gelangten Arbeiten oft weg bzw. waehlen vielfach nur die sie zufaellig
Arbeiten aus der geschichtwissenschaftlichen Fakultaet aus, bewerten
also nicht nach dem potentiellen wissenschaftlichen Wert der Arbeit (was
an sich ganz in Ordnung waere, wenn sich die Bibliothekare darum
kuemmern wuerden).

Als Mindestforderung waere die dauerhafte Einstellung jeder solchen
Arbeit in wenigstens einem Exemplar in eine oeffentlich zugaengliche
Bibliothek anzustreben. Noch besser waere natuerlich, wenn
Pruefungsarbeiten, die im urheberrechtlichen Sinne durch die Einstellung
zwar veroeffentlicht, aber nicht erschienen sind, auch kopiert und ueber
die Fernleihe auswaertigen Interessenten zugaenglich gemacht werden
duerften (die Leihverkehrsordnung schiebt dem einen Riegel vor).

Dass die Euphorie fuer E-Texte nunmehr an den hier bestehenden
Verkrustungen nagt, ist ganz erfreulich. Wichtig waere aber auch, dass
in Bibliotheken in konventioneller Form existierende Arbeiten in den
OPACs der Verbuende ueberhaupt nachgewiesen wuerden. Daneben waeren
fachspezifische Nachweisinstrumente im Internet nuetzlich, die Abstracts
und Informationen ueber Zugangsmodalitaeten enthalten sollten.

Ich moechte somit dringend dafuer plaedieren, den Blick nicht nur auf
die elektronischen Dissertationen zu richten, sondern auch die anderen
Pruefungsarbeiten in die Ueberlegungen miteinzubeziehen.

Freundliche Gruesse von der Mosel
Dr. Klaus Graf
e-mail: graf _at__ uni-koblenz.de
http://www.uni-koblenz.de/~graf/


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