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AW: Informatiker entwickeln Bibliothek der Zukunft



Es ist erstaunlich, dass Informatiker, die die "Bibliothek der Zukunft"
entwickeln wollen, nicht wissen, was eine Bibliothek ist.
1. Will ein Benutzer ein bestimmtes Buch, so liegt - dies ist richtig - ein
Bedarf vor. Dieser Bedarf wird aber auch in einer traditionellen Bibliothek
erfüllt - sei es aus dem eigenen Bestand (Papierform oder elektronisch) oder
durch Zulieferung durch bibliothekarische Kooperation. Welcher Art oder
Qualität dieses Buch ist, spielt dabei keine Rolle.
2. Die zentrale Frage hier ist aber: wie wird der Bestand einer Bibliothek
erworben? Oder anders gefragt: Wofür wird das Geld eingesetzt? Klar ist,
dass eine b e g r e n z t e Summe Geldes für eine bestimmte A u s w a h l
eingesetzt wird. Sind dies flüchtige Medien, die ein Benutzer nach eigenem
Urteil einmalig für sich erwirbt oder wie wird der Bestand definiert?
Sehen wir einmal von bestimmten anderen Formen, wo sich der Bestand z.B.
durch den Inhalt definiert (Sondersammelgebiete usw), liegt bei der
Anschaffung grundsätzlich die Überlegung zugrunde, dass ein Buch von der
Zielgruppe der Bibliothek mehrfach und dauerhaft genutzt werden wird. Dies
ist keine willkürliche "Vermutung". Grundlage dieser Überlegung ist der
vergangene, aber vom Bibliothekar e v a l u i e r t e Bedarf sowie die
aktuellen Informationsaktivitäten der Zielgruppe der eigenen Bibliothek.
Hierbei wird - wie überall - mit Wahrscheinlichkeiten gearbeitet (Würden wir
mit absoluter Gewißheit arbeiten, so wären wir Götter oder Wahnsinnige). Nur
dadurch ist eine Wirtschaftlichkeit der Bibliothek gegeben, nämlich -
vereinfacht gesprochen - dass durch eine einmal eingesetzte Summe Geldes
eine mehrfache Nutzung ermöglicht wird.
Hier kommt außerdem eine qualitative Ebene mit hinein. Ist Buch, das z.B.
ein Erstsemester oder Berufsanfänger bestellt (er bekommt es, s.o., dies ist
nicht die Frage), weil der Titel so schön ist, auch derart beschaffen, dass
es von ihm und anderen für den avisierten Zweck sinnvoll genutzt werden kann
und also die Geldausgabe des begrenzten Anschaffungsetats der eigenen
Bibliothek rechtfertigt? Zur Erinnerung: eine Auswahl muss schon allein aus
dem Grund getroffen werden, weil Geld nicht unbegrenzt vorhanden ist. 
3. Ob flüchtige Einzellizenz für nur einen Nutzer oder "Gleitlizenz" für nur
einen Nutzer: In jedem dieser beiden Fälle steigen mit jedem Nutzer die
Kosten für ein Werk linear an. Hier "wirkt" also auch ein
"Marktmechanismus". Betreibt eine Bibliothek eine derartige Kaufpolitik (von
Anschaffungspolitik kann man ja nicht reden), so arbeitet sie
unwirtschaftlich. Nach den Kriterien der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit,
die für die öffentliche Hand gelten, müsste sie eigentlich  geschlossen
werden.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Jürgen Kaestner
Kanzlei des Hessischen Landtags
Referatsleiter Archiv, Bibliothek, Dokumentation
e-Mail: J.Kaestner _at__ ltg.hessen.de
www.landtag.hessen.de: Zugang zum Landtagsinformationssystem über die
Menüpunkte Datenbanken, Dokumentenarchiv, Elektronische Bibliothek


-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: M. Schwantner [mailto:msch _at__ FIZ-Karlsruhe.DE]
Gesendet: Freitag, 2. August 2002 18:12
An: Internet in Bibliotheken
Betreff: Re: Informatiker entwickeln Bibliothek der Zukunft


Liebe Leser der Liste,

zu dem Beitrag von Hrn. Kaestner:

> From: "Kaestner, Dr. Juergen" <j.Kaestner _at__ ltg.hessen.de>
> Date: Thu, 1 Aug 2002 16:04:42 +0200
> [...]
> Grundsätzlich liegt dem Ansatz doch ein Denkfehler zugrunde. Eine
Bibliothek
> erwirbt ein Buch, wenn sie davon ausgeht, dass ihr Benutzerkreis dieses
Buch
> benötigt. Dies schließt in der Regel die Vermutung ein, dass die einmalige
> Anschaffung des Buches zu einer mehrfachen oder gar häufigen Benutzung des
> Buches führt.
> ...  Absurd
> wird es geradezu, wenn man die Möglichkeit bedenkt, das nach diesem
Einzigen
> wiederum ein zweiter und nach einiger Zeit ein dritter "Selbsterwerber"
auf
> Kosten der Bibliothek kommt

Lassen Sie uns dieses Szenario in einer digitalen Bibliothek weiter 
denken: Der Bibliothekar beobachtet dieses Nutzerverhalten in seinem 
Statistik-Tool und entscheidet sich nun, da offenbar eine größere 
Nachfrage besteht, eine andere Lizenzform dieses Titels zu 
beschaffen. Z. B. eine Gleitlizenz, die genau das umsetzt, was Sie 
sich wünschen, nämlich eine dauerhafte und weiterverwertbare 
Zugriffsmöglichkeit für genau einen Nutzer zu einem gegebenen 
Zeitpunkt oder eben eine Pauschallizenz, die eine nur durch die 
Gruppengröße limitierte Benutzung gestattet.  

Der entscheidende Unterschied zu Ihrer Vorstellung: Die erste Lizenz 
wird nicht auf Grund einer  V e r m u t u n g  erworben sondern auf 
Grund eines tatsächlichen  B e d a r f s .  

> Allerdings - wie
> es scheint - eine Buchhandlung ohne Kunden, denn ansonsten würden die
> "Selbsterwerber" ja tatsächlich selbst erwerben - allerdings auf eigene
> Kosten.

Im Moment haben wir etwa 600 registrierte Nutzer und darüber hinaus 
anonyme Zugriffe, die nicht auf Personen abgebildet werden können. 
Darunter sind auch die Leser der Leipziger FH-Bibliothek, die über 
einen zugewiesenen Bibliotheksetat verfügen und in der dargestellten 
Weise Einzellizenzen selbst erwerben oder Gleit- und Pauschallizenzen 
der Bibliothek nutzen können. Für uns interessant ist, dass das 
Bibliotheksgeld nur sehr zögernd in Anspruch genommen wird, während 
Gleit- und Campuslizenzen stark nachgefragt sind.  
___

Zu Hrn. Grafs Beitrag:

> From: Klaus Graf <graf _at__ uni-koblenz.de>
> Date: Thu, 01 Aug 2002 16:24:12 +0200
> [...]
> Die gaengige Diskussion ueber E-Produkte (aber auch das klassische
> Urheberrecht) verkennt, dass es zur Eigenart wissenschaftlichen
> Arbeitens gehoert, fuer einen einzigen Beitrag eine Vielzahl
> verschiedener Quellen heranzuziehen, die mit vertretbaren Kosten nur
> in Bibliotheken eingesehen werden koennen - schon die SUBITO-Tarife
> sind, wenn Sie denn privat aufgebracht werden muessen - zu hoch, wenn
> denn eine Vielzahl von Aufsaetzen erforderlich ist. 

Hier liegt ein Missverständnis vor mit dem Ansatz von eVerlage. Um 
digitale Bücher refinanzieren zu können bedarf es - zumindest in der 
Anfangsphase einer starken Nachfrage. Sie lässt sich in einer 
Forschungsbibliothek einfach schlechter umsetzen als in einer 
Studienbibliothek. Die Angebote von eVerlage orientieren daher auf 
große Studiengänge in naturwissenschaftlichen und technischen 
Studienfächern und dort vor allem auf das Grundstudium und versteht 
sich als Ergänzung zu den etablierten Angeboten der Hochschulbiblio- 
theken.  
___

Zu Hrn. Umstaetters Beitrag:

> From: Walther Umstaetter <h0228kdm _at__ rz.hu-berlin.de>
> Date: Fri, 02 Aug 2002 00:08:42 +0200
> [...]
> Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Verlage, Fachinformationszentren
und
> Informatiker Projektgelder bekommen um etwas zukunftstraechtiges zu
entwickeln.
> Es ist noch erfreulicher, wenn dieses Geld dazu fuehrt, dass das deutsche
> Bibliothekswesen weiterentwickelt wird. Dann sollte man aber die
archivarische,
> oekonomische und synoptische Funktion der Digitalen Bibliothek nicht
verkennen,
> und den internationalen Stand der Bibliothekswissenschaft.

Wir merken sehr wohl, dass hier die vollmundige Überschrift der 
Pressemitteilung 'Bibliothek der Zukunft' sehr wörtlich genommen 
wird, während wir in eVerlage gemäß dem Schwerpunkt 5 des Global Info 
Programms und überein- stimmend mit den Zielen der beteiligten 
Bibliotheken vor allem die ökonomischen Fragen betrachtet haben. 
eVerlage ist ja auch ein Projekt von Bibliotheken  u n d  Verlagen 
und daher haben wir versucht, einen Interessensausgleich zwischen den 
Beteiligten zu finden.   

So ist die Erprobung von zeitlich befristeten Lizenzen das Anliegen 
der Verlage gewesen: Bei einem Einzellizenzpreis von 10% des 
Ladenpreises für die Dauer von einem halben Jahr hätte man nach 5 
Jahren permanenter Nutzung das Buch einmal bezahlt aber immer Zugriff 
auf die neueste Ausgabe.  

> Eine wissenschaftliche Bibliothek muss versuchen
> Zugang zum gesamten Wissen der Welt zu schaffen, nur so ist Wissenschaft
im
> internationalen Wettbewerb ueberhaupt moeglich. Das heisst nicht, dass
auch
> alles gebraucht wird,
> bzw. das nicht gebrauchte auch noch bezahlt werden muss. Entscheidend ist
aber,
> dass die Verlage erkennen muessen, dass nur ein Hundertstel dessen was sie
> anbieten fuer die/den einzelne/n Wissenschaftler/in wirklich lesenswert
ist.

So wie wir die Themen in der InetBib-Liste verstehen, diskutieren Sie 
die Literaturversorgung der Wissenschaft in der 
Informationsgesellschaft als eine Frage der Daseinsvorsorge. Sie 
unterstellen damit, dass Marktmechanismen in diesem Prozess keine 
Rolle spielen dürfen. Eine solche Meinung zu vertreten, ist 
natuerlich legitim und sollte vor allem auf der politischen Bühne 
ausgetragen werden.   

Die Vorstellungen des BMBF im Rahmen von Global Info und damit im 
eVerlage-Projekt waren von einem anderen Ziel geprägt. Es ging darum, 
Technologien zu erproben, die die bekannten Marktmechanismen im 
Internet und in der digitalen Bibliothek erfolgreich weiterwirken 
lassen. Also lagen die Schwerpunkte auf Angebotsformen, Abrechnungs- 
verfahren und Zahlungssystemen in digitalen Bibliotheken.  

Wir haben uns sehr gefreut, dass Sie in dieser Liste so aktiv und 
unbeschwert das Thema mit uns diskutiert haben und würden die Debatte 
gern weiter fortsetzen. Leider treten die hier Beteiligten von 
eVerlage in den nächsten Tagen ihren Urlaub an, so dass mindestens 
eine Diskussionspause entsteht.  

Wir laden Sie gerne ein, mit uns in Leipzig persönlich weiter zu 
debattieren: Am 26. und 27. September werden auf den Leipziger 
Informatik Tagen unter der Überschrift 'Marktplatz Internet' - von 
eLearning bis ePayment auch die Ergebnisse des eVerlage-Projekts 
präsentiert und die Projektbeteiligten sind persönlich anwesend.  

Informationen dazu finden sie unter  

  http://www.dfki.de/LIT-2002/LIT2002.swf  


Mit freundlichen Gruessen,
das eVerlage-Team:

* Klaus Bastian (HTWK Leipzig, www.htwk-leipzig.de)  
* Frank Oldenettel (OFFIS Oldenburg, www.offis.de)  
* Michael Schwantner (FIZ Karlsruhe, www.FIZ-Karlsruhe.de)  
* Florian Wagenpfeil (FAST Muenchen, www.fast.de)  


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 Dr. Michael Schwantner             msch _at__ fiz-karlsruhe.de
 FIZ Karlsruhe (STN International)  http://www.fiz-karlsruhe.de
 Online Service - Entwicklung
 P.O. Box 2465                      Tel  : +49-7247-808260
 D-76012 Karlsruhe                  Fax  : +49-7247-808133
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Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.