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Causa Nordelbische Kirchenbibliothek



"Die Kirchenbibliotheken haben einen schweren Stand. Auf der Ebene der
Kirchenleitungen scheint die Sensibilität für diese
Form der Kulturgeschichte nicht zureichend ausgeprägt zu sein," klagt
der Hamburger Kirchenhistoriker Johann Anselm Steiger
im Rheinischen Merkur.

online: http://www.merkur.de/aktuell/cw/ki_023402.html

"So hat die Leitung der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche
(NEK) im Jahr 2000 den
   Beschluss gefasst, die Nordelbische Kirchenbibliothek (NEKB) in
Hamburg zu "verschlanken". Fast die Hälfte der Bücher
   muss veräußert werden. Eine erhebliche Menge von Büchern ist bereits
verkauft worden. In besonders empfindlicher Weise
   traf es die Drucke der Barockzeit, unter ihnen auch Hamburgensien, so
ein Werk von Philipp Nicolai (1601-1608
   Hauptpastor an St. Katharinen), aber auch Schriften von Johann Konrad
Dannhauer, Daniel Cramer, Nicolaus Hunnius,
   um nur einige zu nennen. Dass dem so ist, ist ein Teilergebnis der
Unternehmensberatung, die die NEK beauftragt hatte.
   Das derzeitige Bibliotheksgebäude soll verkauft werden. Die
Bibliothek selbst hat durch die Verkäufe die Umzugskosten zu
   erwirtschaften. Hier kollidiert kurzfristig-ökonomisches Denken mit
den Langzeitverpflichtungen der Kirche als
   Kulturträgerin."

In einem Leserbrief an die FAZ beschreibt Steiger treffend die
Abwiegelungsstrategie der Kirche. Sein Text:

"Verstümmelte Bibliothek
                       
Zum Brief "Von der Kirchenbibliothek ins
Antiquariat" von Leser Professor Dr. Wolfgang
Sommer (F.A.Z. vom 6. August): Der Verkauf
wertvoller alter Drucke durch die Nordelbische
Kirchenbibliothek (NEKB) in Hamburg hat für
Aufsehen gesorgt. Der bereits zu Jahresbeginn
seitens des Fachbereiches Evangelische
Theologie der Universität Hamburg erhobene
Protest ist mittlerweile durch ähnliche
Interventionen bibliothekarischer Verbände
unterstützt worden; die Kirchenleitung der
Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche
(NEK) hat den Verkauf von Büchern aus der
NEKB gestoppt. Daß dieser Beschluß allerdings
so ernst nicht zu nehmen ist, offenbart die
Tatsache, daß Bestände der bereits durch
Aussonderungen hart getroffenen
"Ahlefeldtschen Bibliothek" weiter zum Verkauf
angeboten werden. Zudem behält sich der
Oberkirchenrat vor, auf dem Wege der
Sondergenehmigung den Ausverkauf
voranzutreiben.

Schon vor geraumer Zeit habe ich der
Kirchenleitung konkrete verfahrenstechnische
Vorschläge unterbreitet, um die Interessen von
Wissenschaft und kulturhistorisch sensibler
Öffentlichkeit zu wahren: Schaffung von
Transparenz durch Ausarbeitung und Vorlage
einer kompletten Liste derjenigen historischen
Drucke, die noch ausgesondert werden sollen;
Gewährung eines Vorkaufsrechtes zugunsten
des Fachbereichs Theologie in Hamburg;
kostenlose Überlassung zumindest eines Teils
der abzustoßenden Bestände an die Hamburger
Staats- und Universitätsbibliothek; Offenlegung
der Segmente, die bereits verkauft worden sind,
um Rückkäufe auf dem Antiquariatsmarkt zu
ermöglichen. Die beste Lösung allerdings wäre
die Revision des Beschlusses, der die
Verstümmelung der NEKB aus kurzsichtigen
ökonomischen Beweggründen in Gang gesetzt
hat.

Das Kirchenamt hat dem Fachbereich Theologie
ein Vorkaufsrecht eingeräumt, freilich ohne sich
zuvor darüber Klarheit verschafft zu haben, was
dies juristisch bedeutet. Auf alle weiteren
Vorschläge liegt bislang keinerlei Reaktion vor.
Selbst die dringende Bitte um ein Gespräch
zwischen der Kirchenleitung und Vertretern des
Fachbereichs wird dilatorisch behandelt.
Offenbar ist es die Strategie der NEK, über die
Angelegenheit Gras wachsen zu lassen. Es läßt
tief blicken, daß der Kirchenleitung nur schwer
beizubringen ist, daß die Wahrung von
kirchlichem Kulturgut auch im Interesse der
Kirche liegt. Es ist höchste Zeit für die NEK,
einzulenken und eine Schadensbegrenzung zu
ermöglichen. Eines aber dürfte klar sein: Die
Sensibilität der Öffentlichkeit ist zu hoch, als
daß es angeraten ist, sich die nordelbischen
Vorgänge andernorts wiederholen zu lassen.

Professor Dr. Johann Anselm Steiger,
Hamburg"

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.08.2002, Nr.
195 / Seite 38

Dr. Hans Horn (Waldbröl), Mitglied der Leitung der Ev. Kirche im
Rheinland, hat sich am 9. Juli mit einem Protestbrief an Frau Bischoefin
Jepsen gewandt, aus dem ich zitieren darf:

"Sehr geehrte Frau Bischöfin,
mit großem Befremden habe ich vernommen, dass die Nordelbische
Kirchenbibliothek sich eines großten Teiles ihres historischen
Buchbestandes entledigt hat, indem sie diese Bücher auf dem Markt
angeboten hat. Dies ist ein Vorgang, der schärfste Kritik verdient, weil
damit einerseits sicherlich der Qualität dieser wissenschaftlichen
Bibliothek unersetzlicher Schaden zugefügt wurde, zum anderen aber auch
dieser Verkauf eine Signalwirkung hat, die das Ansehen der Kirche schwer
beschädigen muss. Das Echo, das der Verkauf gefunden hat, dürfte meine
Aussage bestätigen. Selbst großen einschlägigen Fachbibliotheken sind
laut FAZ (05.07.2002, Nr. 153, S. 37) keine Angebote gemacht worden, was
möglicherweise verhindert hätte, dass Bücher, zum Teil mit
Seltenheitswert, in alle Winde verstreut worden sind. Solche Akte von
Kulturbarbarei dürfen in unserer Evangelischen Kirche einfach nicht
Platz greifen. Eine sehr gründliche Prüfung des gesamten Vorgangs sollte
sich die Nordelbische Landeskirche nicht ersparen." In der reinischen
Kirchenleitung seien die Hamburger Vorgaenge, teilte mir Dr. Horn
freundlicherweise mit schaerfster Missbilligung aufgenommen worden.

Als Antwort erhielt er ein Schreiben einer offenkundig ueberforderten
Oberkirchenraetin, in dem sein Befremden auf meinen angeblich
unrichtigen FAZ-Artikel bezogen wurde.

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Angesichts der von Steiger oeffentlich gemachten Haltung der
Nordelbischen Kirche, die keinerlei Einsicht zeigt und mit falschen
Karten spielt (Verkauf gestoppt, aber nicht fuer die Ahlefeldtsche
Bibliothek) und wichtige Informationen verweigert, kann keine Entwarnung
gegeben werden. Jede/r, der Kontakte zu kirchlichen Gremien oder zu
Gremien kirchlicher Bibliotheken hat, ist aufgerufen, den Fall kritisch
zu thematisieren und gegebenenfalls in Hamburg zu protestieren.
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Materialien im WWW zur Affaere und zu historischen Kirchenbibliotheken:

Homepage der NEKB mit Links zur Nordelbischen Kirche:
http://home.t-online.de/home/04041325926-001/nekb.htm

Mein Beitrag vom 7. Mai mit Dokumentation ausgewaehlter Verkaeufe:
http://www.ub.uni-dortmund.de/Listenarchive/LIB-L/200205/20020507.html#0

Nachtrag mit Hinweis auf den Artikel im Hamburger Abendblatt vom
19.4.2002:
http://www.ub.uni-dortmund.de/Listenarchive/INETBIB/200205/20020511.html#2

Offener Brief des VDB Niedersachsen (Dr. Stäcker) an Bischoefin Jepsen:
http://www.hab.de/vereine/de/vdb/berichte.htm

Spendenaufruf Prof. Steiger
http://www.theologie.uni-hamburg.de/fb/akt_aufruf.html

Beitrag mit dem Text des dann am 5. Juli publizierten FAZ-Artikels von
mir:
http://www.ub.uni-dortmund.de/Listenarchive/INETBIB/200207/20020703.html#0

Katholische Kirchenbibliothekare wollen Kulturgut bewahren
(Tagungsbericht Naurod)
http://www.ub.uni-dortmund.de/Listenarchive/INETBIB/200208/20020803.html#1

Leserbrief Prof. Wolfgang Sommer FAZ 6.8.2002, Auszug:
http://www.ub.uni-dortmund.de/Listenarchive/INETBIB/200208/20020806.html

Zu Kirchenbibliotheken im WWW und zur Literatur zum Thema
http://log.netbib.de/index.php?m=200205#76901812
http://log.netbib.de/index.php?m=200205#76901762
http://log.netbib.de/index.php?m=200205#76901723
http://log.netbib.de/index.php?m=200205#76673867
Weiteres siehe Suche s.v. Kirchenbib (automat. Rechtstrunkierung!)

Dr. Klaus Graf
http://www.uni-koblenz.de/~graf/#kulturgut


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.