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Re: Fachterminologie: Virtuelle Bibliothek



Bevor die Diskussion in InetBib losging, hatte ich für einen Vortrag auf der
ASpB-Tagung Dresden folgende Passage formuliert:
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"Virtuell, digital, elektronisch - was denn nun?

Die Realität virtueller Bibliotheken läßt sich am besten im World Wide Web
selbst erfahren. Doch die Suche nach der virtuellen Bibliothek bringt über
die Quick-Search-Funktion von MetaGer als ersten Treffer die
Fremdenverkehrswerbung des Trusetals auf den Bildschirm, mit der
vielversprechenden Adresse: http://www.virtuelle-bibliothek.com.
Die pfiffigen Marketing-Leute haben diesen Domainnamen in der Hoffnung auf
viele Klicks ganz einfach gekauft.
Suchen wir gründlicher, wird ein weiteres Dilemma deutlich. Mit der
deutschen Suchmaschine Fireball lassen sich selbst ohne Truncation 3.300
Treffer zur virtuellen, 1.300 zur digitalen und 600 zur elektronischen
Bibliothek finden. Benutzen wir AltaVista und erweitern die Suche um die
englischsprachigen Phrasen "virtual library", "digital library" und
"electronic library", erhöht sich das Ergebnis auf über 270.000
Eintragungen.
Betrachten wir die Treffer, so können wir feststellen, daß in der Realität
des World Wide Web der Sprachgebrauch von Bibliothekaren dem anderer
Netizens entspricht: alle drei Begriffe werden völlig beliebig für die ganze
Vielfalt von Informationsangeboten im Internet benutzt. Bei der Definition
dessen, was eine elektronische Bibliothek von der digitalen oder der
virtuellen unterscheidet, sind die sonst so streng, mit Normdateien und
Regelwerken arbeitenden Bibliothekare in der Realität keine Hilfe.
Der Kollege Hilberer aus Düsseldorf dagegen versucht eine Definition:
"Digitale Bibliotheken sind Sammlungen elektronischer Informationen, die
sich im Besitz und damit unter Kontrolle der betreffenden Realen Bibliothek
befin-den, Virtuelle Bibliotheken sind Sammlungen von Verweisungen
(link-Samm-lungen) auf Informationen, die sich aber als solche nicht im
Besitz der betref-fenden Realen Bibliothek befinden. Natürlich sind alle
Virtuellen Bibliotheken immer auch digital, aber Digitale Bibliotheken
keineswegs immer auch virtuell. Nicht-virtuelle digitale Bibliotheken sind
z.B. CD-ROM-Sammlungen."
So weit so gut! Aus der Sicht des Benutzers ist diese Unterscheidung aber
wenig hilfreich, denn die Zuordnung einer Information zur digitalen oder
virtuellen Bibliothek ist ihm egal, er will darauf zugreifen. Die
elektronische Düsseldorfer Dissertation würde in Düsseldorf zur digitalen
Bibliothek, aus Oldenburger Sicht zur virtuellen gehören. Die CD-ROM "
PsycLit" würde von Hilberer in die digitale Bibliothek einsortiert werden,
der Zugriff auf die selben Daten über FirstSearch von OCLC dagegen in der
virtuellen Bibliothek zu finden sein. Auch die Technik verwischt die
Grenzen: ein analoges Video, also nur elektronisch abspielbar, wird an einen
WebTV-Server angeschlossen und "on the fly" zur digitalen und virtuellen
Information. Ja selbst das ausgeliehene reale Buch der ULB Düsseldorf kann
virtuell werden, wenn es trotz Mahnungen nicht zurückgegeben wird. Wir
sollten den Nutzer nicht durch irritierende Etikettierungen verwirren."

Auf der LIBER Conference letzte Woche habe ich es so ausgedrückt:
"Distinctions by technology, cost or source are not helpful. The user does
not want to know whether an information resource is sorted to the
electronic, digital, virtual or real library. He wants to access it for
searching, reading, copying or whatever."

Forts. Dresden-Vortrag:
"Die Bedeutung von "virtuell" in der Definition von Microsofts Encarta
trifft den Kern:
"virtuell
1 der Möglichkeit nach vorhanden
2 nur gedacht, scheinbar"
Die virtuelle Bibliothek ist "der Möglichkeit nach vorhanden": der eine oder
andere Link funktioniert oder auch nicht, jene Information ist kostenlos
oder leider doch kostenpflichtig, und die subito-Lieferung ist nicht lesbar,
aber die Möglichkeit hätte bestanden, daß sie es ist.
Auch die zweite Bedeutung trifft zu: die virtuelle Bibliothek ist "nur
gedacht, scheinbar". Denn trotz Hunderten von Millionen Web-Seiten ist sie
heute noch eine winzige Bibliothek, gemessen an unseren realen Bibliotheken.
Es scheint so, daß wir heute mit den 270.000 Treffern, auch wenn wir die
Dubletten herausfiltern, noch mehr virtuelle Bibliotheken als überhaupt
virtuelle Bücher im Netz haben. Oder anders formuliert: wir haben zu viele
virtuelle Bibliotheken und zu wenige virtuelle Bücher. An beidem sind die
Bibliothekare nicht schuldlos."
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Statt die Diskussion über die Terminologie weiterzuführen, sollten wir uns
auf die Realisierung der hybriden Bibliothek im Sinne unserer britischen
KollegInnen konzentrieren, deren Kernidee in dem folgenden schlichten Satz
zusammengefasst ist:
"Communications and Information Technology enables the integration of
information and work." (R. Hazeltine)
Der Artikel von Chris Rusbridge in D-Lib Magazine, aus dem das Zitat von
Richard Hazeltine stammt, sei jeder deutschen BibliothakarIn empfohlen.
Freundliche Gruesse
Han Waetjen
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Hans-Joachim Waetjen
Bibliotheks- und Informationssystem
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