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Re: Dissertationen Online und/oder Printexemplar?



Sehr geehrte Frau Hotzel,

owohl es aus meiner Sicht keinen Zweifel darüber geben kann, dass wir schon
heute, und in Zukunft noch mehr (die sog. Graue Literatur nimmt
explosionsartig zu), fast alle Informationen nur noch digital archivieren
können, zögert man im deutschen Bibliothekswesen z.Z. noch sehr stark den
Weg der digitalen Archivierung zu gehen. Am deutlichsten erkennt man dies
daran, dass man in Deutshland die Bedeutung von SGML gegenüber all den
anderen Formaten wie PDF, PS, Tex, Winword, etc. für Archivzwecke noch immer
nicht klar genug erkannt hat. Die USA haben in ihrem staatlichen Bereich
diese Entscheidung längst gefällt.

Als wir vor Jahren einen Antrag an die DFG für ein Projekt, zum digitalen
Angebot und zur digitalen Archivierung der Dissertationen in SGML gestellt
haben, wurde dieser abgelehnt. Das Fazit der chaotischen Formativielfalt
sieht man heute immer deutlicher. Ich bin aber trotzdem sicher, dass sich
unsere Erkenntnis, dass unter bibliothekswissenschaftlicher Sicht z.Z. nur
eine Archivierung in SGML akzeptabel ist, durchsetzen wird. Das ist das
schöne an wirklichen Theorien, im Gegensatz zu Hypothesen, am Schluss
erweisen sie sich als richtig. insofern kann man diese Entwicklung mit
Gelassenheit betrachten. Das große Interesse des Verlagswesens an PS- bzw.
PDF-Files ist bibliothekarisch weniger relevant. Das Verlagswesen hat ein
berechtigte Eigeninteressen, die man selbstverständlich akzeptieren muss.
Insofern können die Bemühungen der Humboldt-Universität bezüglich SGML
sicher als Vorbild gesehen werden. Trotzdem fehlt in diesem Punkt noch immer
die Einsicht einer breiten Mehrheit der deutschen Bibliothekare. Solange
werden wohl auch Sie sich noch auf den heutigen Modus einstellen müssen.

Ansonsten kann ich Sie an Frau Dr. Heike Schiffer an der Sprothochschule in
Köln verweisen. Sie hatan unserem Fernstudium teilgenommen und auf diesem
Gebiet gearbeitet.

Die noch existierende Vorstellung, wir suchen, finden, und  downloaden
Dissertationen aus dem Internet um sie dann genau zu studieren und
gegebenenfalls zu zitieren, während das gedruckte Original in Leipzig liegt,
geht zunehmend einer Absurdität entgegen. Die digitale Version muss
authentisch sein, sonst ist sie nicht zitierfähig. Dafür zu sorgen war, ist,
und bleibt die Aufgabe der Biblöiotheken.

Dissertationen im SGML- (HTML- oder XML-) Format sind per se bereits besser
erschlossen als gedruckte Versionen, wenn man sie z.B. durch WAIS-Systeme
erfasst. Was wir heute diskutieren ist die Volltextindexierung und die
Wissensstrukturierung auf dieser Basis. Darüber hinaus lassen sich mit
Thesauri Voraussetzungen schaffen, damit auch Computer den Inhalt der
Dissertationen "verstehen" und als Wissensbanken weiterverarbeiten können.
Dies aber nur als kurze Andeutung eines komplexen Problems der nächsten
Zukunft.

Eines der Hindernisse ist auch, dass Dissertationen von Bibliothekaren nicht
ernst genug genommen werden. So ist es bedauerlicherweise falsch, dass die
sog. besseren Dissertationen im Verlagswesen erscheinen. Nicht selten sind
es sogar die schlechteren, weil sie sich mit Gemeinplätzen beschäftigen. Im
eigentlichen Verlagswesen geht es weniger um Qualität, die sollte sich schon
aus der Promotion bzw. der Verteidigung zwingend ergeben, es geht um die
Auflagenzahl. Dissertationen haben oft sehr enge Themenbegrenzungen
(wichtiges Titelelement ist nicht selten "unter besonderer
Berücksichtigung") und sind somit meist nur für Spezialisten von Interesse.
Sie werden dem entsprechend meist auch nur von Spezialisten ausgeliehen,
dafür aber länger. Bei den Selbstverlagen spielt die Qualität sicher noch
weniger eine Rolle.

Solange die Entscheidungsträger des deutschen Bibliothekswesens und die
Mehrheit der Bibliothekarinnen und Bibliothekare (weil das Bibliothekswesen
in Deutschland zu wenig von der Wissenschaft und zu stark von Demokratie
bestimmt ist) noch immer glauben, dass die gedruckte Version in Leipzig und
in der jeweiligen Promotions-Universität ausreicht, können wir leider nicht
über die wirklich akuten Probleme, die Authentizitätssicherung im Internet,
die Archivierung auf CD-ROM  bzw. DVD, die notwendige Redundanz, und das
DTD-Spektrum im Rahmen der SGML, ernst diskutieren.

Kurz gesagt, die Papierform bleibt, aber nur als Ausgabemedium, archiviert
wird, sobald sich eine wissenschaftliche Betrachtungswesie durchgesetzt hat,
nur noch digital.

MfG

Umstätter

Prof. Dr. Walther Umstätter
Institut für Bibliothekswissenschaft
Humboldt-Universität zu Berlin




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