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Bundesverfassungsgericht zu Kunstfreiheit und Urheberrecht



Wer die herrschende juristische Meinung zu den angeblich extrem eng
auszulegenden Schranken des Urheberrechts, zu denen auch das Zitatrecht
zaehlt, kennt, wird eine neue Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
fuer besonders bemerkenswert halten. Es ging um die
Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des OLG Muenchen, die
Heiner Muellers Uebernahme von Brecht-Texten auf Klage von den bekannt
streitfreudigen Brecht-Erben hin verboten hatte. Dem Spruch aus
Karlsruhe ist unbedingt zuzustimmen. Es ist damit zu rechnen, dass auch
die Grundrechte der Informations- und Forschungsfreiheit (Art. 5 GG)
kuenftig in der Rechtsprechung zum Urheberrecht eine groessere Rolle
spielen werden - ein erfreuliches Signal fuer die Bibliotheken!

Freundliche Gruesse von der Mosel

Klaus Graf
http://www.uni-koblenz.de/~graf

Volltext:

http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20000629_1bvr082598

Auszug:

"aa) Die durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geforderte kunstspezifische
Betrachtung verlangt, bei der Auslegung und Anwendung des
 § 51 Nr. 2 UrhG die innere Verbindung der zitierten Stellen mit den
Gedanken und Überlegungen des Zitierenden über die bloße
 Belegfunktion hinaus auch als Mittel künstlerischen Ausdrucks und
künstlerischer Gestaltung anzuerkennen und damit dieser
 Vorschrift für Kunstwerke zu einem Anwendungsbereich zu verhelfen, der
weiter ist als bei anderen, nichtkünstlerischen
 Sprachwerken.

 Dabei ist grundlegend zu beachten, dass mit der Veröffentlichung ein
Werk nicht mehr allein seinem Inhaber zur Verfügung steht.
 Vielmehr tritt es bestimmungsgemäß in den gesellschaftlichen Raum und
kann damit zu einem eigenständigen, das kulturelle und
 geistige Bild der Zeit mitbestimmenden Faktor werden. Es löst sich mit
der Zeit von der privatrechtlichen Verfügbarkeit und wird
 geistiges und kulturelles Allgemeingut (BVerfGE 79, 29 <42>). Dies ist
einerseits die innere Rechtfertigung für die zeitliche
 Begrenzung des Urheberschutzes, andererseits führt dieser Umstand auch
dazu, dass das Werk umso stärker als Anknüpfungspunkt
 für eine künstlerische Auseinandersetzung dienen kann, je mehr es seine
gewünschte gesellschaftliche Rolle erfüllt. Diese
 gesellschaftliche Einbindung der Kunst ist damit gleichzeitig
Wirkungsvoraussetzung für sie und Ursache dafür, dass die Künstler in
 gewissem Maß Eingriffe in ihre Urheberrechte durch andere Künstler als
Teil der sich mit dem Kunstwerk auseinander setzenden
 Gesellschaft hinzunehmen haben. Zur Bestimmung des zulässigen Umfangs
dieser Eingriffe dienen die Schrankenbestimmungen des
 Urheberrechts (§§ 45 ff. UrhG), die ihrerseits aber wieder im Lichte
der Kunstfreiheit auszulegen sind und einen Ausgleich zwischen
 den verschiedenen - auch verfassungsrechtlich - geschützten Interessen
schaffen müssen. Dem Interesse der Urheberrechtsinhaber
 vor Ausbeutung ihrer Werke ohne Genehmigung zu fremden kommerziellen
Zwecken steht das durch die Kunstfreiheit geschützte
 Interesse anderer Künstler gegenüber, ohne die Gefahr von Eingriffen
finanzieller oder inhaltlicher Art in einen künstlerischen Dialog
 und Schaffensprozess zu vorhandenen Werken treten zu können.

 Steht - wie vorliegend - ein geringfügiger Eingriff in die
Urheberrechte ohne die Gefahr merklicher wirtschaftlicher Nachteile
(z.B.
 Absatzrückgänge, vgl. hierzu BGH, GRUR 1959, S. 197 <200>) der
künstlerischen Entfaltungsfreiheit gegenüber, so haben die
 Verwertungsinteressen der Urheberrechtsinhaber im Vergleich zu den
Nutzungsinteressen für eine künstlerische Auseinandersetzung
 zurückzutreten."

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