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E-Mediaevistik - Teil 2



(Forts.)

Mittelalterliche Texte sind zwar gemeinfrei, aber die größten bislang
gedruckten Sammlungen wecken natürlich kommerzielle Begehrlichkeiten,
die zu Quasi-Monopolen führen. Zu erinnern ist nur an die von
Chadwick-Healey digitalisierten Patrologia Latina oder die Acta
Sanctorum, deren immense jährlichen Lizenzgebühren nur von einer kleinen
Anzahl deutscher Institutionen aufgebracht werden können. Unmittelbaren
Zugang zu solchen Hilfsmitteln, die das wissenschaftliche Arbeiten
durchaus revolutioniert haben, haben somit nur die happy few im
Einzugsbereich der Lizenznehmer.  Das amerikanische Projekt MUSE, das
eine Vielzahl digitalisierter Zeitschriften anbietet, verlangt von einer
Bibliothek, die keine Ermäßigung erhält, derzeit jährlich 14.000 Dollar.
Dreiste Preisgestaltung gibt es natürlich auch in Deutschland. So ist
die CD-ROM des Lexikon des Mittelalters für die Abonnenten der
gedruckten Ausgabe, die einen überflüssigen Registerband teuer bezahlen
mußten, mit knapp 1700 DM schlicht und einfach zu teuer.

Wer nicht an einer Universität beschäftigt ist und womöglich auf dem
Land lebt, hat schlechte Karten: bibliographische Datenbanken und
elektronische Zeitschriften stehen ihm nicht zur Verfügung. Wir erleben
somit das revival des reisenden Historikers aus der Humanistenzeit:
nicht mehr alte Handschriften aus abgelegenen Klosterbibliotheken sind
das Ziel seiner Begehrlichkeit, sondern Datenbanken, die nur vor Ort
eingesehen werden können. Die kommende  Urheberrechtsnovelle, Umsetzung
einer denkbar wirtschaftsfreundlichen EU-Richtlinie, wird hier
voraussichtlich keine Erleichterungen für die Bibliotheken bringen.
Diese müssen bei exklusiven Online-Publikationen Fernleihen dadurch
bedienen, daß sie den Text ausdrucken und auf Papier verschicken. Das
Zauberwort der Zukunft heißt Digital Rights Management, nicht mehr: Free
Content. Kommerzielle Anbieter können in Zukunft die Nutzung total
kontrollieren: es wird Datenbanken geben, aus denen Texte nur zur
einmaligen Ansicht heruntergeladen werden dürfen, CD-ROMs, die
absichtlich nur begrenzt lesbar sind und nicht kopiert werden können.
Wer solche Kopierschutzvorrichten technisch umgeht, soll mit aller Härte
des Strafrechts rechnen müssen. Die vom Phänomen Napster geschockten
Lobbyisten dürften es in diesem Zusammenhang wohl bedauern, daß die
Vierteilung und das Rädern leider etwas aus der Mode gekommen sind. Die
Bibliotheken werden froh sein müssen, wenn sie ein digitales
Pflichtexemplar abstauben dürfen, das auschließlich zur Präsenzbenutzung
vorgesehen ist.

Und wir erleben das revival der humanistischen Gelehrtenfreundschaft, in
deren Rahmen dem geschätzten Kollegen ein Aufsatz als digitale Kopie
versandt oder mal eben eine CD-ROM gebrannt wird.

Schöne neue digitale Welt. Ist es ein Zerrbild, was ich hier gezeichnet
habe? In einer von der Unternehmensberatung Little für das
Bundesministerium für Bildung und Forschung erstellten Studie wurden
zahlreiche einschlägige Institutionen nach der Zukunft der
wissenschaftlichen und technischen Information befragt. "Das
dringlichste Anliegen der Befragten ist die nachhaltige Sicherung des
freien Zugangs zu wissenschaftlich technischen Informationen [WTI]. Dies
ist unter zwei Aspekten von hoher Bedeutung: 1. Die gegenwärtigen
Engpässe in der Verfügbarkeit von WTI, wie sie vielfach durch
preisbedingte Abbestellungen entstanden sind, werden bereits jetzt
vielfach als nicht mehr akzeptable Einschränkung leistungsfähiger
Forschung gesehen. 2. Die Gefahr der Monopolisierung/Oligopolisierung
von WTI durch die Konzentration auf Anbieterseite, verbunden mit der
Kontrolle über exklusive Nutzungs- und Distributionsrechte und mit
entsprechenden Auswirkungen auf Breite, Qualität, Kosten und
Verfügbarkeit wird als wachsend betrachtet."

Nochmals: Mittelalterliche Texte sind gemeinfrei. Will man aber
ungedruckte Handschriften edieren oder abbilden, sieht man sich nicht
selten den Restriktionen der Bibliotheken gegenüber, die nicht auf der
Seite der Forschung und der Informationsfreiheit stehen, sondern sich
Herrschaftsbefugnisse anmaßen, die ihnen von Rechts wegen nicht
zukommen, ein unangenehmes Zwingherrentum, das auf seinen Tell noch
wartet.

Ein bibliotheksjuristisches Gutachten hat schon vor Jahren dargelegt,
daß die üblichen Verpflichtungsscheine in Handschriftenabteilungen, die
eine Edition von einer Erlaubnis der Bibliothek abhängig machen,
rechtlich nicht haltbar sind. Wirtschaftlich bedeutsamer ist die Frage
der Bildrechte, die natürlich auch der Digitalisierung von Handschriften
durch Dritte etwa aufgrund erworbener Mikrofilme entgegensteht.  Ich
nenne namentlich die Bayerische Staatsbibliothek, die hier in unangehmer
Weise die Kommerzialisierung vorantreibt. Vor einigen Wochen kam in der
bibliothekarischen Mailingliste INETBIB eine Anfrage aus Darmstadt: Ein
Benutzer wolle eine historische Karte digitalisieren. Die Antwort aus
München lautete: "die AG öffentlich-rechtlicher Bildarchive empfiehlt
(wie andere kommerzielle Bildanbieter): 1. Auflösung 72 dpi 2.
Nutzungsrecht zeitlich beschränkt (1 Woche; 1 Monat; 3 Monate; 6 Monate;
1 Jahr) und dementsprechend preislich gestaffelt." Die Rechtsgrundlage
solcher Reproduktionsgebühren für gemeinfreie Werke ist fraglich, sie
entwickeln sich mehr und mehr zu einer wissenschaftlichen Landplage, die
das freie Publizieren und die wünschenswerte Bebilderung
wissenschaftlicher Arbeiten oder Netzpublikationen in unerträglicher
Weise behindert. Die restriktiven Entgelte der VG Bild-Kunst, die für
urheberrechtlich geschützte Kunst zuständig ist, haben schon eine
kunstwissenschaftliche Picasso-Online-Ausstellung aus dem Netz
vertrieben.

Daß man sich für wissenschaftliche Zwecke auf das Zitatrecht des
Urheberrechts berufen kann, wird von den entsprechenden Lobbyisten in
ihren Veröffentlichungen meistens nur am Rande vermerkt. Daß es höchst
fraglich ist, ob die seriell gefertigten Fotoaufnahmen, die einer
Handschriftendigitalisierung wie der Heidelberger Manessehandschrift
zugrundliegen, überhaupt einen urheberrechtlichen Schutz als Lichtbilder
genießen, wird gemeinhin ebenso unterschlagen. Im angloamerikanischen
Rechtskreis hat das Urteil eines New Yorker Gerichts 1999 eine
bemerkenswerte Lanze für die public domain gebrochen, als es
originalgetreue Reproduktionen zweidimensionaler, nicht mehr geschützter
Vorlagen wie Gemälde für nicht copyrightfähig erklärte. Weitere
Informationen dazu übrigens auf meiner Homepage - geben Sie einfach in
Google auf gut Glück Klaus Graf ein!

Zu guter Letzt: Was können wir Wissenschaftler tun? Wir können uns mehr
Wissen über das Urheberrecht aneignen, damit wir nicht wie verängstigte
Hasen vor den Wölfen der Global-Player  zittern.  Wir können gegen die
Enteignung unserer Urheberrechte durch die Verlage angehen, indem wir
beispielsweise darauf bestehen, daß ein Jahr nach Erscheinen
Zeitschriftenartikel nach dem Willen des Gesetzgebers anderweitig, also
auch online veröffentlicht werden dürfen. Wir können bei Altverträgen
vor 1995 die Online-Rechte, die seinerzeit gar nicht wirksam übertragen
werden konnten, für eine freie Zweitverwertung im Internet nutzen. Wir
können kooperative und kostenfreie Online-Bibliotheken errichten, die
den Zugang  zu gehaltvollen wissenschaftlichen Texten nicht vom
Gutdünken der Verwerter und vom Zugang zu Hochschulangeboten abhängig
machen. Wir sollten Urheberpersönlichkeitsrecht und Verwertungsrechte
trennen: Das eine steht uns alleine zu und soll uns auch allein gehören,
das andere aber dürfen und sollen wir in die genossenschaftliche
Allmende der scientific community einbringen.


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.