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Re: Zeitschriftenkrise



Klaus-Rainer Brintzinger wrote:
Lieber Herr Franken,
...

Zunächst teile ich die Ansicht von Herrn Franken und Herrn Brintzinger, dass die Fachbereiche bei den konkurrierenden Bedürfnissen „andere Dinge lieber haben wollen“ als Literatur. Da greift das alte Wort, des 'wir lesen nicht wir publizieren selbst', das ursprünglich wohl ein Scherz bei Max Planck Instituten war, nun aber immer mehr zum bitteren Ernst wird, und sich in der Qualität so mancher Publikation niederschlägt.

Dass die bisherigen Etatverteilungen in Bibliotheken eher sportliche Ereignisse waren, gegenüber den dann entbrennenden Kämpfen zwischen den Fakultäten sollte man dabei auch nicht übersehen. Außerdem wird man kaum verhindern können, dass die Fakultäten und Institute, wenn man ihnen die Zeitschriftenerwerbung überlässt auch die dazugehörigen Personalkosten, die CD-ROMs, die Gebäudekosten etc. haben möchten. Rechnet man z.B. eine Universitätsbibliothek mit rund 40 Mio. Euro Baukosten und davon 4 Mio. laufende Kosten pro Jahr, so wären das bei 8 Fakultäten eine grob geschätzte halbe Million Euro pro Jahr und Fakultät – ein Betrag, der in den Kalkulationen so meist nicht auftaucht, aber bei dem Planspiel hier und bei der zunehmenden Zahl an E-Journals ein wachsendes Interesse bei den Endnutzern wecken wird.

Dass Studierende der Naturwissenschaften keine Zeitschriften brauchen, ist sicher so nicht richtig. Sie brauchen sie spätestens bei ihren Diplomarbeiten und Dissertationen zuhauf.

Das gilt auch für Mediziner. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, weil ich für diese einst Hunderte von Recherchen durchgeführt habe.

Was allgemein vergessen, und von den Verlagen absichtlich übersehen wird, ist die Tatsache, dass ein Wissenschaftler rund hundert Aufsätze überfliegt und auf Relevanz prüft, bevor er ihn liest. Wenn somit bei einer Diplom- oder Magisterarbeit hundert Referenzen erscheinen, mussten rund 10000 Titel durchgesehen werden. Die Verlage wollen den Bibliothekaren immer einreden, dass sie mit Hilfe ihres editorial boards oder des peer reviewing Spitzenprodukte auf den Markt bringen. Das hat aber nichts damit zu tun, dass der einzelne wissenschaftlich Tätige in 99 Fällen feststellt, dass er einen Zeitschriftenaufsatz nicht braucht, bis er den findet, den er sehr genau studieren muss um ihn zu veri- bzw. falsifizieren.

Eigentlich brauchen Wissenschaftler daher weit mehr Zeitschriften als die Bibliotheken erwerben. Wenn aber jedes naturwissenschaftliche Institut selbst entscheiden würde, hätten sie fast alle z.B. Nature und Science und dafür noch weniger von den anderen Hunderttausend Titeln in dieser Welt. Das einer Potenzfunktion folgende Gefälle zwischen den Zeitschriften mit Spitzennutzung und den vielen Spezialzeitschriften ist fundamental wichtig für die Kommunikation der Wissenschaftler. Es darf aber weder zu groß noch zu klein werden, weil in beiden Fällen Schäden für die Wissenschaft entstehen. Dazu leisten Bibliotheken einen essentiellen Beitrag.

Die Bibliothekswissenschaft hat mit dem Bradford’s Law of Scattering ein sehr wichtiges Instrument zur Bestimmung der Interdisziplinarität der Wissenschaft in der Hand, das deutlich macht, warum man es nicht den einzelnen Instituten überlassen kann, welche Zeitschriften eine Universität braucht.

Es mag sein, dass Endnutzer weniger Geld für die Informationsbeschaffung ausgeben würden. Weil damit aber ein erheblicher Verlust an wissenschaftlicher Qualität, in Lehre und Forschung einherginge, wäre das katastrophal. In den USA wurde bereits die Abschaffung von Bibliotheken mit rund 10 % Wissenschaftsverlust berechnet, was volkswirtschaftlich einem mittleren Desaster entspräche. Denn Wissenschaft ist ein internationaler Wettbewerb, nur die Sieger zählen.

Meine Schätzung in dieser Richtung ist allerdings, dass wir in Deutschland nur 5% Wissenschaftsverlust hätten, weil unsere Bibliotheken vermutlich nur halb so leistungsfähig wie die der USA sind, obwohl sie schätzungsweise ebensoviel Geld kosten.
Die Hypothese: Es werden die „teuren Journals vor allem deswegen bezogen, weil sie die den Nutzer nichts kosten“ ist so nicht richtig. Sie werden bezogen, weil man ohne sie keine moderne Wissenschaft betreiben kann. Das lässt sich am SCI leicht nachweisen. Es ist aber vermutlich richtig, dass die Wissenschaftler sie selbst nicht kaufen würden – in der Hoffnung, dass es andere für sie tun. Und wenn es niemand tut, dann ist ihre wissenschaftliche Tätigkeit ja nicht schlechter als die der anderen. Problematisch wird es erst, wenn deutsche Wissenschaftler nicht mehr das lesen können, was amerikanische Wissenschaftler bereits wissen. Im internationalen Vergleich gibt es da aber noch sehr viel ärmere Länder.


Die Tatsache, dass jedes „Jahr zig Journals neu entstehen und andere eingestellt werden“ hat mit bibliothekarischer Kontinuität wenig zu tun. Ein Teil dieses Phänomens hängt damit zusammen, dass Wissenschaftler und Verlage Zeitschriften oft zu früh gründen, um im Wettbewerb die Ersten zu sein. Darum werden sozusagen zwei Zeitschriften gegründet, von denen eine nur überlebt. Was viele Menschen dazu verleitet vom Zeitschriftensterben zu sprechen. In Wirklichkeit ist das Wachstum der Zeitschriften eine Funktion des Wissenschaftswachstums mit einer Verdopplungsrate von 20 Jahren. Daneben werden in vielen Fällen Zeitschriften nur neu benannt, um modern zu erscheinen. Was früher Database hieß nennt sich nun z.B. Content Management. Was sich einst Bibliographie, dann Dokumentation, dann Information Management und nun Knowledge Management nennt, ist eine kontinuierliche Differenzierung, in der es die Bibliographie und die Dokumentation auch noch gibt.

Es ist richtig, wenn es da heißt: „Wir bestimmen ja auch nicht über ihre Laborausstattung mit.“ Und wir bestimmen auch nicht, was Wissenschaftler lesen, wir müssen ihnen aber die Möglichkeit geben alles wesentliche zu lesen, bevor sie einen neuen, möglicherweise unsinnigen Laborversuch machen. MEDLARS hat sehr genau verfolgt, welche Erfahrungen es auf der Welt mit Verbrennungen bei Menschen und Tieren schon gegeben hat, um Tierversuche auf diesem Gebiet, wenn nicht zu verhindern, dann zumindest zu minimieren. Wissenschaft ist nicht nur teuer, sie ist im überleben von Menschen bitterer Ernst.

Da gibt es die alte Frage, bei der Evaluierung von Datenbanken: „War diese Recherche in MEDLARS für Sie wichtig?“ Antwort: „Wenn das Überleben von Patient xy wichtig ist, ja!“

Die Feststellung: „Ganz egal, was die UB tut, sie hat verloren, muss sich der Ineffizienz bezichtigen lassen und startet schon als Looser in die nächste Runde.“ klingt sehr nach Resignation.

Rechnet man in Deutschland 24 Mrd. Euro jährlich für die Hochschulen, an denen sich 2 Mio. Studierende befinden, dann sind das 12 000 Euro pro Student und Jahr. Allerdings dürfte davon nur etwa die eine Hälfte an die Lehre und die andere an die Forschung gehen. Rechnet man etwa 700 Mio. Euro Gesamtkosten für die Hochschulbibliotheken in Deutschland, dann wären das knapp 3% und somit 350 Euro pro Studierendem. Dabei sind aber die Kosten für die Bibliotheksbauten der UBs noch unberücksichtigt. Die 20% Studierenden an den Fachhochschulen werden allerdings bibliothekarisch etwa um den Faktor 20 schlechter versorgt, so dass sie dringend die Möglichkeit brauchen auf die UBs zuzugreifen, denn auch sie schreiben Abschlussarbeiten, in denen sie Zeitschriftenaufsätze brauchen.

Bibliotheken sind nicht teuer, sie machen Lehre und Wissenschaft überhaupt erst bezahlbar.

Mit freundlichen Grüßen

Umstätter



Klaus-Rainer Brintzinger wrote:

Lieber Herr Franken,

Ihr Modell entspricht genau dem, was ich vorgeschlagen hatte. Allerdings würde ich mich auf den Etat für wissenschaftliche Zeitschriften in STM-Fächern beschränken. Ich gehe davon aus, dass diese ganz überwiegend, wenn nicht ausschliesslich von den Wissenschaftlern gelesen werden. Studierende der Naturwissenschaften benötigen in ihrem Studium (ganz besonders gilt dies für die Medizin) relativ wenig Literatur und insbesondere Lehrbücher. Daher würde sich an der Versorgung der Studierenden mit Literatur nichts ändern - im Gegenteil, diese würde sich tendenziell sogar verbessern, wenn nicht der Gesamtetat durch die Zeitschriftenpreissteigerungen aufgefressen würde.
Ich stimme Ihrer Prognose vollkommen zu, dass es dann zu Abbestellungen kommen wird, weil die Wissenschaftler mit ihrem "eigenen" Geld bezahlen müssen - oder ökonomisch besprochen: Gemäß ihrer tatsächlichen Präferenzen entscheiden müssen. Es gibt - sofern nicht Interessen Dritter berührt sind - keinen Grund, dass wir diese Präferenzen durch bibliothekarisches Wirken verzerren. Nur die verzerrten Präferenzen erlauben den Verlagen ihr Spiel - und dies gilt bei fast allen aktuellen Problemen öffentlicher Etats. Denn wenn Ihre (und auch meine) Prognose stimmt, werden die teuren Journals vorallem deswegen bezogen, weil sie die den Nutzer nichts kosten und er deswegen ein möglichst großes Stück vom Kuchen abschneidet.
Verabschieden müssen wir uns dabei nur von dem alten Fachreferenten-Ideal des geordneten und abgerundeten Bestandsaufbau. Dies mag vielleicht in manchen Geisteswissenschaften noch eine gewisse Berechtigung haben - doch im STM Bereich, wo jedes Jahr zig Journals neu entstehen und andere eingestellt werden, kann doch die bibliothekarische Kontinuität nicht länger währen als die wissenschaftliche Kontinuität.
Dass sich beim Ab- und Neubestellen Partikularinteressen durchsetzen, ist nicht ausgeschlossen, doch so what, solange die Wissenschaftlern selbst darüber entscheiden, was sie lesen wollen. (Wir bestimmen ja auch nicht über ihre Laborausstattung mit).
Abgesehen davon haben wir durch Datenbanken, die wir i.d.R. nicht archivieren können, das Vollständigkeitsideal schon längst zugunsten von "Access" über Bord geworfen.
Und Neuberufungen sollten uns keine Sorge machen: Nicht wir, sondern die Fakultäten und der Senat berufen und müssen für die Ausstattung Sorge tragen. So wie wir auch heute nicht verhindern können, dass ein Wissenschaftler berufen wird, für dessen Spezialgebiet keine Literatur vorhanden ist und dieser die Universität wieder verläßt, nachdem die Literatur mühsam rückergänzt worden ist.
Ich glaube auch nicht, dass Universitätsbibliotheken betrübt sein sollten, wenn sie diesen Teil des Etats abgegeben dürften. Viele "Vollunis" geben 80% und mehr des Zeitschriftenetats für die STM-Fächer aus, über den sie keinerlei Entscheidungsfreiheit mehr haben. Nachgefragt werden die Leistungen der UB bzw. des gesamten Bibliothekssystems jedoch - nach meiner Einschätzung aus Tübingen - ganz überwiegend von den Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaften, schon alleine weil die Studierendenzahlen in diesem Bereich überwiegen. Die UB hat damit eine Aufgabe, die - Sie haben das in dem Moneymaker-Brief besonders illustrativ dargestellt - faktisch unlösbar ist: Gibt die Bibliothek aufgrund der horrenden Preissteigerungen mehr Geld für die STM-Journals aus, so vernachlässigt sie einen großen Teil Ihres Kernklientels, verweigert sie sich den Preissteigerungen und bestellt Zeitschriften ab, so wird sie sich zuschreiben lassen müssen, die Literaturversorgung an der Uni nicht gewährleisten zu können und damit ihre Aufgaben nicht zu erfüllen. Es ist nicht nur ein klassisches Schach-matt, sondern eine Spirale ohne Ende: Ganz egal, was die UB tut, sie hat verloren, muss sich der Ineffizienz bezichtigen lassen und startet schon als Looser in die nächste Runde.
Daher ist m.E. die zentrale Etatisierung der Zeitschriftenkosten bei der UB ein echtes Danaer-Geschenk, das wir selbstbewusst zurück - an die wissenschaftlichen Einheiten - weisen sollten. Dies gilt wohlgemerkt nur für die STM-Journals und völlig unberüht bleibt davon die Frage, wer die bibliothekarische Bearbeitung der Medien übernimmt. Hier haben wir Bibliothekare unsere Fachkompetenz und sollten diese Kernkompetenz selbstbewußt herausstellen.
Nun ist diese Anwort etwas länger geworden, ich setze Sie dennoch wunschgemäß in inetbib.


Beste Grüße

Klaus-Rainer Brintzinger

Klaus Franken schrieb:


Lieber Herr Brintzinger,
mit Ihrer Überlegung rühren Sie nach meiner Ansicht an ein sehr delikates Problem, über das wir in Konstanz auch schon diskutiert haben. Dabei sah unser "Modell" etwas anders aus, nämlich: Die Literaturmittel für ein bestimmtes Fach werden dem Fachbereich zur freien Verfügung zugewiesen und er kann daraus Zeitschriften, Monografien, Dienstreisen oder Hiwis bezahlen. Soweit er sich für Literatur entscheidet, wird diese von der Bibliothek für die Bibliothek und damit alle Benutzer beschafft.
Dann passiert wohl folgendes: Die Fachbereiche müssen zwischen konkurrierenden Bedürfnissen abwägen. Dann wird, so unsere Prognose, deutlich mehr abbestellt bzw. weniger Literatur gekauft als derzeit - auch bei knappen Mitteln - , weil die Fachbereiche das Geld für andere Dinge lieber haben wollen. Damit führen sie aber den Nachweis, dass sie soviel Literatur, wie sie kaufen könnten gar nicht so dringend brauchen.
Die Probleme, die wir sehen, sind folgende:


a) Bei einem solchen Verfahren bleiben womöglich die Bedürfnisse der Studierenden auf der Strecke.
b) Wer kauft die Grundlagenliteratur aller Fächer, die zugleich eine Investition in die Zukunft darstellt? Wir befürchten, dass bei künftigen Berufungen mit etwas anderen Forschungsschwerpunkten als den derzeitigen noch nicht einmal die grundlegenden Werke vorhanden sind.
c) Ein Fachbereich beschafft vermutlich immer nur das, was er gerade aktuell braucht. Ein bibliothekarischer Bestandsaufbau, der in längeren Zeiträumen denkt, ist damit hinfällig, woraus sich die weitere Frage ergibt, ob und ggf. was das bedeutet und zwar für die Nutzer und auch für die Bibliothek.


Ungeachtet dessen wäre es natürlich betrüblich, wenn der Literaturetat nicht mehr der Bibliothek "gehört", aber das ist noch ein ganz anderer Aspekt.
Mit freundlichem Gruß und der Bitte, diese Antwort in InetBib einzubringen.
Gruß Klaus Franken





At 20:49 21.01.2004 +0100, you wrote:


Lieber Herr Franken,
liebe Liste,

besten Dank für diese illustrative Geschichte, die den Kern der Zeitschriftenkrise deutlich offenlegt. Ökonomen nennen dies das Allmende-Problem, das immer dann entsteht, wenn Eigentumsrechte (wie hier bei einem zentralen Etat der UB) nicht definiert sind. Ökonomen empfehlen dagegen, Eigentumsrechte zu definieren. Also warum überlassen wir die Last der steigenden Preise für STM-Zeitschriften nicht den Wissenschaftlern bzw. ihren Lehrstühlen und Instituten? Denn wie Harold Moneymaker schreibt: "Kein Wissenschaftler würde soviel Geld ausgegeben."
Also warum nicht STM-Zeitschriften abbestellen und das ersparte Geld den Fakultäten überlassen, die dann selbst überlegen dürften, wie lange sie das mitmachen.
Nur weil wir am Produktionsprozess unbeteiligte Bibliothekare uns am Absatz beteiligen, funktioniert das Spiel so gut, wie Moneymaker schreibt.


Beste Grüße und schönen Abend
Klaus-Rainer Brintzinger






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