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Re: "Bibliothekare zur R-Reform"



Es wird in (B)ezug auf die R-Reform viel von demokratischen Vorgängen
geredet. Als ausländischer Beobachter dieser Diskussion fällt das mir sehr
stark auf, denn ich könnte es mir als Amerikaner nie vorstellen, daß
irgendeine amerikanische politische Einrichtung analog der KMK sich in
Sprachangelegenheiten mischen würden. Aber hierzulande ist die Sprache
allerdings äußerst demokratisch, denn genau wie in dem winzig kleinen
Norwegen lassen wir in unzähligen Fällen Schreibvarianten zu. Jeder
entscheidet für sich, welche das Passende ist. Ob Website oder Web site
oder website, versteht doch jeder was gemeint wird, um nur ein kleines und
unbedeutendes Beispiel zu nennen. Ein wesentlicher Teil unserer
SchülerInnen sind natürlich, wie allgemein bekannt, Quasi-Analphabeten,
aber das hat nichts mit dem Fehlen eines zuverlässigen Schreibregelwerkes
zu tun, sondern mit vielen anderen entscheidenden Ursachen. Das Argument,
ein Land der Größe Deutschlands ein einheitliches Regelwerk bedürfe,
verstehe ich nicht, denn das hieße, wir bräuchten eins auch, und zwar
dringend.

Aber wie wenig ich es mir vorstellen könnte, daß die Politik in die Sprache
eingreifen würde, fände ich es genau so merkwürdig, wenn sich
Bibliothekare, Informatiker, Lehrer, usw., sich hier einmischten. Das ist
einfach fehl am Platz. Ich habe kein Verständnis für die Behauptung, es
wäre für Bibliotheken wichtig, daß wir eine einheitliche Schreibweise
haben, denn in unseren Katalogen gibt es schon zigtausende Bücher, die
"veraltete" Titel tragen, und zwar in vielen Sprachen. Ob es Eisschnellauf
oder Eisschnelllauf heißt ist doch eine Kleinigkeit gegenüber den
Schwierigkeiten, die, z.B., die verschiedenen Transkriptionsmöglichkeiten
für das Chinesische uns vorbereiten, aber Wissenschaftler finden trotzdem
das, was sie benötigen.

MfG
Dale Askey

At 09:39 AM 7/20/2004, you wrote:

Ich habe vor relativ kurzer Zeit drei Jahre in Norwegen gelebt. In
Norwegen ist die zentrale "linguistische Instanz", der "spraakraad"
("Sprachrat") per Satzung dazu verpflichtet, sich der Propagierung
"linguistischer Toleranz" auch und vor allem im Alltagsleben zu widmen.
Es gibt - verkürzend - nahezu nichts Norwegisches, das Sie nicht auch
anders schreiben können. Meine norwegischen KollegInnen sind mir nicht
als sonderlich illiterat aufgefallen. Die norwegischen Schulkinder haben
bei Pisa deutlich besser abgeschnitten als die deutschen. (Letzteres
sage ich ungern, weil ich von dieser Studie nicht allzu viel halte.)


Ich halte es für plausibel, daß in einem kleinen Land wie Norwegen mit
4,5 Millionen Einwohnern es nicht sehr ins Gewicht fällt, ob die einen
so, die anderen aber anders schreiben; das bleibt aufgrund der
Einwohnerzahl alles noch überschaubar und "familiär". Wenn Sie das
aber auf 80 Millionen Sprecher/Schreiber extrapolieren, haben Sie bei
abweichenden Schreibgewohnheiten irgendwann ein Problem, denn dann
tendieren die abweichenden Schreibungen zuerst zu "Regionalismen" und
dann vielleicht zu Sondersprachen --- und irgendwann gibt es
Verständigungsprobleme. Mich wundert daher nicht, daß große
selbstbewußte Sprachgemeinschaften wie die englische auf
orthographische Homogeneität achten (und daß die Unterschiede zwischen
britischem und amerikanischen Englisch eben genau das sind, was sie
sein sollen: kulturelle Abstandsmarkierungen). Gute Gründe also, das
Deutsche nicht schlechter zu behandeln als das Englische und
angesichts der Größe unsrer Sprach- und Schreibgemeinschaft die Sache
nicht aus dem Ruder laufen zu lassen.

Schöne Grüße,

Uwe Jochum
Erfahrungsgemäß reichen schon weitaus weniger als 4,5 Millionen Einwohnern
für jede ansehnliche Sprachverwirrung aus,
insofern ist das keine Frage der Größe des Landes. Es ist der Vorteil
einer Publikation, wie der des Duden,
für den es egal ist, ob ihn 5, 50 oder 500 Mio. Menschen lesen.
"Regionalismen" kann man schon in jedem kleinen Tal und in jedem Stadtteil
problemlos erzeugen. Ob sie Rechtschreibrelevanz bekommen entscheidet in
Deutschland auch weitgehend
der Duden auf Grund ihrer Ausbreitung, und die wird immer stärker von den
Massenmedien bestimmt.

Ohne die Massenmedien einerseits und die Globalisierung andererseits hätte
sich das Sinn machen (make sense)
gegen das Sinn haben nicht so rasch durchsetzen können. Wobei der
Unterschied zwischen Sinn haben und Bedeutung haben
weitgehend verloren gegangen ist, obwohl es einen großen Unterschied macht,
ob eine Handlung sinnvoll ist, und ein Beobachter diesen Sinn erkennt oder
einen eigenen hineininterpretiert.

Durch die weltweite Massenkommunikation gewinnt die Sprache in allen
Ländern eine immer größere Dynamik.
Sie sinnvoll zu kontrollieren ist weitaus wichtiger, als sie nostalgisch
zurückdrehen zu wollen.
Sprache muss sich weiterentwickeln, weil sich sonst das neue Wissen nicht
ausbreiten kann.
Dass man dabei fast alles verballhornen kann ist klar. Insofern fand ich
das Beispiel "Ich habe liebe Genossen (genossen) in Berlin.",
immer sehr aufschlussreich. Anstatt einen von unzählig vielen anderen
zweideutigen Sätzen zu unterlassen,
nutzte man ihn gern und oft für eine in diesem Punkt völlig überflüssige
Diskussion.

Eine Diskussion über die Verbesserung unserer Sprache ist zweifellos
wichtig,
ebenso wie die Beseitigung von Fehlern in der Rechtschreibreform.
Man kann sich aber weiterhin des Eindrucks nicht erwehren, dass es vielen
Menschen darum weniger geht,
als um die Rückgängimachung aus Prinzip,
um den Erhalt alter Gewohnheiten, um die Demonstration verfehlter Politik
des politischen Gegners,
um den Nachweis unterschiedlicher Intelligenz, um den Erhalt etablierter
Denkstrukturen und vieles mehr.
Mich stört dabei weiternin, wenn Bibliothekare ihr ohnehin verstaubtes
Image aufpolieren.

Wie weit es Engländern und Amerikanern um "kulturelle
Abstandsmarkierungen" geht, ist eine interessante Frage,
wenn man sieht, wie so mancher amerikanische oder auch englische Spielfilm
davon lebt,
dass die modernen dynamischen Amerikaner sich am old fashioned english
erfreuen.
Wie hieß es u.a. bei Eartha Kitt: "An Englishman Needs Time".
Eine nette Variante wäre: "A librarian need's time".

MFG

Umstätter




__________ Dale Askey 2-1757


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