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Re: Bibliothekare und Bertolt Brecht zur RSR



> Sprache muss auch und gerade im Interesse der Bibliotheken
> weiterentwickelt werden. Sie hat eine Evolution,
> und sie braucht keine Revolution im Sinne dessen, dass wir das Rad der
> Geschichte wieder zurückdrehen.

Lieber Herr Umstätter,

Sie mißverstehen, um was es geht: Niemand bezweifelt, daß Sprache und
Schrift sich evolutionär weiterentwickeln; heftig bezweifelt wird
allerdings, daß es sich bei der Rechtschreibreform um eine evolutive
Weiterentwicklung gehandelt hat; vielmehr handelte es sich um einen
revolutionären Vorgang, bei dem eine "Avantgarde" von
Sprachwissenschaftlern ihre persönlichen Vorstellungen von richtigem
Schreiben durchzusetzen versuchten. Das Rad zurückzudrehen heißt in
diesem Kontext also bloß: jenen Stand wieder erreichen, auf dem sich
die natürliche Schriftevolution vor dem revolutionären Zugriff einmal
befand. Daß Sprache/Schrift keine Revolution braucht, wie Sie
schreiben, ist also festzuhalten, auch wenn Sie es selbst dann anders
meinen.

> Wir brauchen einen Darwin des Bibliothekswesens und eine
> Evolutionsstrategie der geistigen und sprachlichen Entwicklung
> und keinen Cuvier mit einer neuen Kataklysmentheorie.

Und ich dachte immer, die Dinge evolutionierten von alleine und ganz
strategielos. Auch hier wieder: Evolution braucht keine revolutionäre
Einmischung, weder in der Sprache noch sonstwo --- das sind einfach
zwei grundverschiedene Entwicklungsvorstellungen.

> Mit sachlicher bibliothekswissenschaftlicher Trendanalyse hat das wenig
> zu tun, weil sonst rasch klar wäre,
> dass die RSR vieles übernahm, was wir an den Computern in Bibliotheken
> schon Jahrzehnte vorweggenommen hatten.

Mag sein, daß es da zufällige Überlappungen zwischen Praktiken der
Rechtschreibreform und Computerpratiken gab und gibt, aber daraus kann
man kein systematisch tragfähiges Argument ZUGUNSTEN der Reform
gewinnen (es sei denn, man hängt einer heimlichen Geschichtsteleologie
an, die die Computerei irgendwie für "fortgeschritten" hält und daher
überlappende Praktiken zwischen Computerei und Orthographie als
"besser" betrachtet --- aber besser worin?). Der Verzicht auf das ß in
der Computerei der 70er Jahre hat nämlich ganz andere Gründe als der
Verzicht auf das ß nach kurzem Vokal, wie das die Rechtschreibreform
vorsieht, um nur auf dieses von Ihnen genannte Beispiel einzugehen.

Beste Grüße,

U. Jochum


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