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Re: Bibliothekare und Bertolt Brecht zur RSR



Sehr geehrter Herr Jochum,

Sie schreiben:

"Das Argument lautet also, wenn ich Sie recht verstehe: Es ist richtig,
daß Evolution nicht-teleologisch ist, aber sie hat dennoch eine
Strategie, weil sie auf wahrscheinlichkeitstheoretischer Basis
teleologisch ist. Ich bin weder Biologe noch Mathematiker und habe
mich daher mit Wahrscheinlichkeitstheorie noch nicht beschäftigt; aber
soviel ist doch auch einem Nichtbiologen und Nichtmathematiker klar:
Wahrscheinlichkeit meint die Möglichkeit des Auftretens eines
Ereignisses, mehr nicht; ob die möglichen Ereignisse dann auch
wirklich eintreten, läßt sich wahrscheinlichkeitstheoretisch niemals
bestimmen. Daher kann auch eine wahrscheinlichkeitstheoretisch
durchdeklinierte Evolution keine "Strategie" haben, auch keine in
Anführungszeichen, denn das hieße, über ihre Zielrichtung eine Aussage
zu machen und also von der Möglichkeit auf die Wirklichkeit zu
interpolieren. Das soll mir mal jemand vormachen, ohne mir was dabei
vorzumachen..."

Im Prinzip ist es ganz einfach: Wahrscheinlichkeiten können grundsätzlich zwischen 0 und 1 liegen, reichen also von völlig unwahrscheinlich bis völlig sicher.
Dazu kommen die bedingten Wahrscheinlichkeiten, die bei solchen Strategien eine wichtige Rolle spielen.


Ihre Frage "ob die möglichen Ereignisse dann auch wirklich eintreten," und Ihre
anschließende Behauptung: "läßt sich wahrscheinlichkeitstheoretisch niemals
bestimmen." ist so nicht richtig. Hier muss zunächst zwischen Possibilität und Probabilität unterschieden werden. Die Wahrscheinlichkeitstheorie bestimmt mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ereignis eintritt. Für den Einzelfall ist die dazugehörige Fehlerabschätzung zwar annähernd unendlich, für große Zahlen wird aber die Aussage immer verlässlicher.


Es mag sein, dass Sie den Unterschied zwischen "Evolution" und "Revolution" in meinen Zeilen nicht erkannt haben, das ist auch leicht erklärlich, weil die Evolution mehr oder minder große Revolutionen (zumindest das was wir als solche erkennen) einschließt. Sie ist eben nicht einfach teleologisch.

Das ist übrigens ein schönes Beispiel für das, was ich als Pädagogisches-Perzeptions-Paradox bezeichne.
So lange man ein Problem nicht verstanden hat, erscheint es paradox. Kaum hat man es verstanden, verliert man das Verständnis dafür, warum andere Menschen nicht das selbe Heureka-Erlebnis haben. Sich dieses Paradox bewusst zu machen, ist insbesondere für Lehrer wichtig.


Andererseits glaubt man oft ein Problem völlig durchschaut zu haben, um dann bei genauerer Betrachtung plötzlich festzustellen, dass die eigene Vorstellung abwegig ist.
Insofern sind alle Thesen nur bedingt wahrscheinlich - die gut zu verteidigenden sind annähernd 1 und die Antithesen entsprechend ~0.


Die verschiednen Trends in den menschlichen Sprachen haben zweifellos eine Evolution.
Eine Teleologie ist dagegen nicht erkennbar. Sie erleben daher wiederholt Revolutionen, und was sich letztlich durchsetzt, kann man wahrscheinlichkeitstheoretisch erst dann vorhersagen, wenn man die dahinter stehende Strategie verstanden hat. So betrachtet ist Wissenschaft oft nur das bewusst machen von phylogenetisch erworbenem Wissen.



MfG


Walther Umstätter


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.