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Re: Bibliothekare und Bertolt Brecht zur RSR



Lieber Herr Umstätter,

> Die Wahrscheinlichkeitstheorie bestimmt mit welcher
> Wahrscheinlichkeit ein Ereignis eintritt.  Für den Einzelfall ist
> die dazugehörige Fehlerabschätzung zwar annähernd unendlich, für
> große Zahlen wird aber die Aussage immer verlässlicher.

Ebendeshalb nutzt die Beiziehung der Wahrscheinlichkeitstheorie für
unsere Debatte über die Rechtschreibreform auch nicht das geringste:
Sie können wahrscheinlichkeitstheoretisch weder deduzieren, warum es
zum ß kam, noch können sie sagen, ob der Stängel wieder zum Stengel
werden wird; und warum das eine besser als das andere ist.

> Es mag sein, dass Sie den Unterschied zwischen "Evolution" und "Revolution"
> in meinen Zeilen nicht erkannt haben, das ist auch leicht erklärlich,
> weil die Evolution mehr oder minder große Revolutionen
> (zumindest das was wir als solche erkennen) einschließt.
> Sie ist eben nicht einfach teleologisch.

Wir drehen uns spätestens ab hier im Kreis. Mein Argument ist:
"Revolution" ist ein
staatstheoretisch-politikwissenschaftlich-historischer Begriff, dessen
Übertragung auf natürliche Phänomene eine Menge Unfug verursacht. Was
Sie hier "Revolution" nennen, meint einfach ein plötzliches Auftreten
von was auch immer im Kontext natürlicher Prozesse. "Revolution" im
politischen Sinne ist aber kein plötzliches Auftreten von irgendwas,
sondern ein gesellschaftliches Ereignis, das man erst dann verstanden
hat, wenn man die Motive der Beteiligten und ihr motivgeleitetes
Handeln verstanden hat. Deshalb reden wir über solche eigentlichen
Revolutionen im Kontext von "Geltung", d.h. wir sind an deren Wahrheit
interessiert; über natürliche Prozesse reden wir im Kontext von
"Genese", d.h. wir sind an ihrer Gesetzmäßigkeit und ihrem aus
Gesetzen erklärbaren Ablauf interessiert. Die Rechtschreibreform
gehört in den Geltungs-Kontext.

> Die verschiednen Trends in den menschlichen Sprachen haben
> zweifellos eine Evolution.  Eine Teleologie ist dagegen nicht
> erkennbar. Sie erleben daher wiederholt Revolutionen, und was sich
> letztlich durchsetzt, kann man wahrscheinlichkeitstheoretisch erst
> dann vorhersagen, wenn man die dahinter stehende Strategie
> verstanden hat.  So betrachtet ist Wissenschaft oft nur das bewusst
> machen von phylogenetisch erworbenem Wissen.
>
>
> MfG
>
> Walther Umstätter
>
P.S. Wer's ganz genau wissen will: "Revolution" war ursprünglich gar
kein politikwissenschaftlich-historischer Begriff, sondern meinte den
Planetenumlauf, sollte also ein nach Naturgesetzen beschreibbares
Phänomen bezeichnen. Dieser Begriff wurde dann auf politische
Verhältnisse übertragen und sollte die Veränderung von Gesellschaften
beschreiben, als man dachte, man könne auch dafür Gesetzmäßigkeiten
angeben. Erst später wird der Begriff benutzt, um den mehr oder
weniger plötzlichen politischen Umsturz zu benennen. Und mit der
Konnotation des Plötzlichen wandert der Begriff nun wieder in den
Kontext der Natur zurück.


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.