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[InetBib] Verwaiste Werke



Allmaehlich beginnt man auch in Europa das Problem der
verwaisten Werke (orphan works), deren Rechteinhaber nach
dem Urheberrechtsgesetz nicht ohne unvertretbaren Aufwand
zu ermitteln ist, etwas ernster zu nehmen. Dies geht nicht
nur aus der Zusammenfassung der EU-Online-Konsultation
Auszug: http://archiv.twoday.net/stories/1734191/
sondern auch aus den einzelnen Stellungnahmen 
http://europa.eu.int/information_society/activities/digital_libraries/consultation/replies/index_en.htm
hervor.

Bedauerlicherweise hat das Urheberrechtsbuendnis,
verstaendlicherweise an anderen Fronten kaempfend, bislang
keinerlei Notiz von diesem wichtigen Problem genommen.

Auf Bibliotheksebene hat man durchaus den Aufsatz von Covey
(Bibliothekarin der CMU) zur Kenntnis genommen
http://www.diglib.org/pubs/trollcovey0509/
(waehrend Archive sich der Bedeutung der Frage noch nicht
bewusst sind).

Es fehlt an empirischen Daten, die British Library
schaetzt, dass nach 50 Jahren 50 % der Werke verwaist sind.

Die Open-Access-Sektion von DigiZeitschriften ist
laecherlich, da kein klarer Schnitt gezogen wird (z.B. beim
Jahr 1900), was durch die Entscheidung, nur ganze
Zeitschrifteneinheiten OA freizugeben, dazu fuehrt, dass
aus ein und demselben Jahr Aufsaetze frei und unfrei sind -
auf unabsehbare Zeit!

Die bibliographische Erfassung bei DigiZeitschriften, das
bekanntlich sein teures Geld nicht wert ist (kein
Volltext!) , ist miserabel, wie aus der Mini-Stichprobe zum
Historischen Jahrbuch 1900 und 1910 (jeweils erstes Heft)
hervorgeht. Ich musste ergaenzend das Erlander
Zeitschriftenfreihandmagazin konsultieren, dem u.a. die
Korrektur von Bäth in Väth verdankt wird (das
Mitarbeiterverzeichnis ist natuerlich auch im
kostenpflichtigen Bereich von DigiZeitschriften!).

Versucht wurde, die Lebensdaten der Verfasser der Artikel
zu ermitteln (auf die Schnelle: mittels Google, Zentrale
Nachlassdatenbank Bundesarchiv, LoC u.a.m.).

1900 Heft 1: Von den 5 Artikeln sind 3 gemeinfrei, koennten
also OA sein (Todesdaten Rübsam 1927, Meister 1925, Weyman
1931), zwei sind es in wenigen Jahren (Schnitzer 1939, Koch
1940).

Werke werden 70 Jahre nach dem Tod des Verfassers
gemeinfrei, Rechte des Verlags bestehen nicht darueber
hinaus fort.

1910 Heft 1: Von den 9 Artikeln sind 3 gemeinfrei (Grauert
1924, Franz 1916, Schulze 1919), in einem Fall (Joseph
Hefner laut LoC *1878) konnte auf die Schnelle kein
Todesjahr ermittelt werden, zwei sind es bald (Buchner
1941, Väth 1937), bei Albert 1956, Baumgarten 1948 und
Grabmann 1949 muss man noch etliche Jahre warten.

Nun macht sich DigiZeitschriften keinen Kopf wegen der
Urheberrechte, hat man doch den Boersenverein bzw. die
Verlage mit im Boot. Dass § 31 IV UrhG fuer Werke vor 1995
(jedenfalls fuer die Zeit ab 1966) das Urheberrecht
aufgrund unbekannter Online-Nutzungsart dem Autor
zuspricht, kuemmert es nicht. Bei einem wissenschaftlichen
Zeitschriftenaufsatz ist fraglich, wieviel ein Gericht als
Schadenersatz einem Autor bzw. seinen Erben zusprechen
wuerde. Vermutlich eher wenig oder nichts,
DigiZeitschriften kann sich also skrupellos ueber die
Rechte der Autoren hinwegsetzen ad maiorem gloriam Mittler
und zur Abzocke.

Wuerde man die Genehmigungen einholen wollen, haette man
eine kaum bewaeltigbare Sysiphus-Aufgabe vor sich, auch
wenn man sich auf die Autoren beschraenkt, die nach 1940
liegen. Bei einem renommierten Autor wie Martin Grabmann
duerfte es kein Problem geben und bei kirchenhistorischen
Autoren wird man haeufiger als sonst mit einem Testament
zugunsten der kirchlichen Insitution, der der Autor
angehoerte, zu rechnen haben.

Aber wenn nun kein Testament vorliegt, scheint es auch
aufgrund der strengen datenschutz-, vor allem aber
personenstandsrechtlichen Vorschriften schwer vorstellbar,
dass man auch mit grossem Aufwand aller Rechtsnachfolger
habhaft wird.

Wird das Urheberrecht nicht testamentarisch gesondert
vermacht oder treffen die unmittelbaren Erben keine
Absprache ueber die Wahrnehmung, so entscheiden ueber die
Vergabe von Nutzungsrechten ALLE Erben gemeinsam. Sie
stimmen nicht ab, es muessen ALLE zustimmen.

Angenommen Peter P. Albert (geb. 1862, gest. erst 1956!)
haette sagen wir ab 1890 fuenf Kinder in die Welt gesetzt,
die jeweils durchschnittlich drei Kinder gehabt haetten,
macht 15 Personen, von denen derzeit vielleicht noch 5
leben. Bei den anderen zehn rechnen wir aeusserst
zurueckhaltend mit jeweils zwei derzeit lebenden Erben,
macht insgesamt 25 Erben, die sich alle einig sein muessen.
Sobald einer von ihnen in Suedamerika unauffindbar ist, ist
das Werk aus rechtlicher Sicht streng genommen "verwaist".
           

Bei einem Aufsatz kann man fuenfe grade sein lassen, aber
bei einem vergriffenen Buch? Selbst wenn man nur versucht,
die Sache ueber den Verlag zu regeln, hat man, wie Covey
aaO gezeigt hat, groesste Probleme, da es viele Verlage
nicht mehr gibt. Erben sind eher bereit, ein Buch OA
freizugeben, aber noch schwieriger zu ermitteln als
Verlage. Und auch bei den Verlagen besteht in der Regel
eine sehr grosse Unsicherheit, ob man denn nun die Rechte
hat oder nicht, da alte Verlagsvertraege sehr oft nicht
auffindbar oder unklar sind.

Es kann gut sein, dass etwa bei Beauftragung einer Detektei
mit der Rechteklaerung die Kosten in keinem Verhaeltnis zu
den Tantiemen steunde, die der Urheber bzw. seine Erben
ueblicherweise - einen Verletzerzuschlag eingerechnet -
ernalten wuerde.

Die Verlagslobby verschliesst vor diesem Problem die Augen,
in verbohrt ideologischer Sicht wird jede gesetzliche
Aenderung des Urheberrechts abgelehnt, die es etwa
ermoeglichen wuerde, verwaiste Werke nichtkommerziell gegen
Einzahlung in einen Fonds digital zugaenglich zu machen.

Kaum eine umfangreichere Anthologie kommt heute ohne die
Klausel aus, man habe sich gewissenhaft um die Rechte
bemueht, es sei aber in einigen Faellen nicht gelungen, der
Rechteinhaber habhaft zu werden, diese moechten sich bitte
melden, man werde nachhonororieren. Das ist gaengige
Verlagspraxis, aber urheberrechtlich VERBOTEN. Wer ohne
Zustimmung des Rechteinhabers Werke nutzt, begeht eine
Straftat (bekanntlich sind Raubkopierer Verbrecher).

Bei den verwaisten Werken muss dringend - auch seitens des
Urheberrechtsbuendnisses - ueber pragmatische Loesungen
nachgedacht werden! Werke sind dazu da, dass sie Nutzen
stiften - heute am besten digitalisiert im Internet, nicht
nur in Bibliotheken.

Klaus Graf
 



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