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[InetBib] Langzeiterhalt von AV-Inhalten ungeloest



TELEPOLIS

Das Problem des Langzeiterhalts von bewegten Bildern und Tönen ist
ungelöst

Joachim Polzer

18.11.2006

Im Verlauf meiner Recherchen zur "Geschichte der Bildplatte" besuchte
ich vor einiger Zeit für ein Interview Günter Lützkendorf, den
inzwischen pensionierten, langjährigen Geschäftsführer der Berliner
Firma Georg Neumann. Die Firma Georg Neumann stellt nach wie vor
Mikrophone von Weltrang her; aus der Entwicklung und Fertigung von
Schallplatten-Schneidemaschinen ist das Unternehmen seit der Übernahme
durch Sennheiser ausgestiegen. Manchmal verlaufen Interviews allerdings
anders, als man es sich zunächst vielleicht vorstellt, vor allen Dingen
dann, wenn der Interviewte ein Reizthema aufgreift, an dem der
Interviewer sich gerade anderweitig abarbeitet. Am Anfang unseres
Gesprächs begann es also mit einer im Plauderton zunächst unverfänglich
gestellten Frage des Interviewten.

Günter Lützkendorf: Worauf speichern Sie dieses Gespräch?

- Ich nehme noch die Mini Disc von Sony.

Günter Lützkendorf: Die schnelle Abfolge von technologischen Verfahren
ist ja an und für sich atemberaubend. Ich sehe eigentlich überall, wenn
man auf das Problem Speichern kommt, dass man dann immer fragt: Ja, wie
lange hält denn das? Ich weiß noch, wie lange wir über das
Magnettongerät gesprochen und orakelt haben: Ja, der Erdmagnetismus –
und irgendwann wird alles weggelöscht sein. Wir hatten ja viel mit dem
deutschen Rundfunk gearbeitet und die ARD hat dann Untersuchungen
gemacht. Die ersten Bänder, die noch aus den dreißiger Jahren stammten,
waren noch vorhanden. Wir waren schließlich alle erstaunt über die
Qualität, die die Dinger noch hatten. Da war nur ein geringer
Höhenverlust festzustellen. Diese Untersuchung der ARD endete eigentlich
auch mit der Feststellung, dass die Angst, die Band-Magnetisierung werde
irgendwann weggelöscht sein, nicht das Wesentliche zu sein scheint. Wir
glaubten viel eher, und das trifft ja heute leider schon sehr stark zu,
dass man das Problem hat, überhaupt noch ein Gerät zu besitzen, das die
Aufnahmen auch wieder abspielen kann. Wo bekommt man heute denn etwa
noch ein Bandgerät her, das die damals übliche Bandgeschwindigkeit von
76 cm pro Sekunde abspielen kann? Und wer repariert Ihnen das Ding
heute, wenn das Abspielgerät irgendwann nicht mehr geht? Das scheint mir
sehr interessant zu werden. Und trotzdem setzen wir doch jetzt ständig
in einer atemberaubenden Abfolge neue Verfahren in die Welt.

- Also, das wäre jetzt eine Gesprächsrunde mit mehreren Folgen für sich
allein. In meinem Brotberuf war ich ja auch Digitalisierer für den
Rundfunk und dort ist diese Problematik sofort offensichtlich. Wenn die
Leute also denken, man würde durch Digitalisierung und digitale
Speicherung in einen Massenspeicher – ob nun Festplatten- oder
Band-gestützt – alle Probleme los sein, dann wird man sehr bald erkennen
müssen, dass dem nicht so sein wird. Für die masselosen Daten gibt es
derzeit keinen dauerhaften Träger.

Mein Vorschlag zur Lösung dieses Problems der Langzeit-Erhaltung von
audiovisuellen Inhalten, den ich auch öffentlich vertrete, ist der, dass
wir wieder anfangen, durch Selektion das Wichtigste wieder analog
umzuschneiden. Aus der Geschichte der Medien bieten sich dafür die drei
grundlegenden Verfahren an: die Magnetbandtechnik, die optische
Aufzeichnung (z. B. auf Film) und die mechanische Gravur (etwa in
Kupfer).

Magnetbandgeräte etwa in einem nicht-industriellen Rahmen neu
herzustellen, ist ja nicht unmöglich, auch wenn die derzeitigen Gesetze
mit fadenscheinigen Begründungen die Wiederaufnahme von
Geräteproduktionen im kleinen Maßstab auch für den Kulturerhalt bei uns
fast verunmöglichen. Es wäre theoretisch also möglich, gewissermaßen
zurückzukehren zum Ursprung und etwa in einer Manufaktur
Film-Projektoren oder Magnetbandgeräte oder Schallplattenschneider
wieder neu herzustellen. Anscheinend kann man die Digitaltechnik der
Mikrochips grundsätzlich nur großindustriell herstellen, da hier die
Militärtechnik des 20. Jahrhunderts Pate stand, wenn man von der bereits
industriellen Relaistechnik, den telefonischen Anfängen des
Computerzeitalters, einmal absieht. Aber auch die automatische
Vermittlungstechnik des Telefons hatte ja nicht unerheblichen
militärischen Nutzen.

Günter Lützkendorf: Also meine jüngeren Kollegen hier aus der Branche,
die sagen immer, das seien die berühmten kranken Ideen der alten
Generation und das sei doch alles gar kein Problem. Ich sage dann immer
als Entgegnung: Naja, Moment mal, allein die Sache immer wieder aufs
Neue zu übertragen – damit kann man ja für alle Ewigkeit beschäftigt
sein. Dann sagen die Jungen immer: Nein, wir haben jetzt Systeme
entwickelt, die das alles automatisch machen. Wenn das nächste Verfahren
kommt, dann würde das auch noch mit erhöhter Geschwindigkeit
übergespielt werden, zudem müsste das alles quasi von selbst machbar
sein. Nun gibt es aber viele Archive, die sich das gar nicht leisten
können und die erstmal bei einem bestimmten Verfahren bleiben, in das
sie investiert haben. Ich finde es nun äußerst interessant, dass Sie da
so ganz anderer Meinung sind.

- Das Problem der Langzeit-Erhaltung von audiovisuellen Inhalten ist
ungelöst. Durch die Automatisierung beim Erhalt digitaler Massenspeicher
– Stichwort Datenmigration – versucht man sich um die notwendige Aufgabe
der kulturellen Selektion zum Erhalt kultureller Traditionen zu drücken.
Und die besteht ja immer darin, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen.

Wenn wir etwas von der Geschichte des Erhalts kultureller Traditionen
lernen können, dann dies, dass sich kulturelle Artefakte in der
Langzeit-Dimensionen nur dann erhalten haben, wenn man ihnen von außen
keine Energie zu deren Erhalt hat zuführen müssen. Die in der Innensicht
an sich richtige betriebswirtschaftliche Entscheidung, Arbeitskräfte aus
dem kulturellen Prozess zu entfernen, führt im gesellschaftlichen
Gesamtprozess zur Katastrophe, die in unserem Fall – wie bei aller
"Rationalisierung" im Industriebereich – darin besteht, dass
industrielle Großstrukturen zwangsläufig zusammenbrechen werden. Ohne
solche industriellen Strukturen wird es aber schon allein aufgrund
logischer Schlussfolgerung sehr schwierig werden, das industrielle Feuer
der kulturellen Digitalisierung weiter brennen zu lassen.

Natürlich ist die Idee sehr verlockend, das gesamte Tonarchiv der ARD in
einem kleinen Köfferchen spazieren tragen zu können. Und dann dieses
kleine Köfferchen anschließend zu klonen, um sagen zu können: Wenn ein
Köfferchen verloren geht, dann haben wir immer noch das andere, das auf
einem anderen Erdteil gelagert wird. Allerdings hat diese clevere Idee
einen entscheidenden Nachteil: Wie beim Atommüll binde ich mit der
kulturellen Digitalisierung nicht nur das Kapital und die Arbeit,
sondern auch die frei verfügbare Energie künftiger Generationen. Und
selbst wenn Menschen, die in der Zukunft leben werden, unsere medialen
Repräsentationen nahrhaft oder aussagekräftig für ihre eigene Gegenwart
finden sollten, werden sie doch – wie beim Atommüll – über die Bürde
fluchen, nicht zuletzt wegen der Synthese von dann nur extrem knapp frei
verfügbarer Energie mit dem Migrationszwang infolge Erderwärmung, wie
ihn Lovelock beschreibt.[1]

Es gehört also, gelinde gesagt, eine gesunde Portion an Gottvertrauen
dazu, heute der Überzeugung zu sein, dass es in 200 Jahren immer noch
Menschen geben wird, die das auch wirklich tun werden, was wir ihnen
durch die kulturelle Digitalisierung als Aufgabe zueignen oder
aufoktroyieren. Es ist eigentlich, wenn man es milde formulieren will,
eine sehr kühne und verwegene Vorstellung bereits bei einem Zeithorizont
von nur 50 Jahren. Und selbst wenn wir heute meinen sollten, dass der
Durchbruch etwa bei holografischen Speichern als Speichermaterial
erzielt worden wäre, behebt das nicht die Problematik der Fluktuationen
des physikalischen Datenformats sowie des Dateiformats der Digisate.
Zumal wir erst am Ende des Zeithorizonts wirklich wissen werden, ob die
Versprechungen der Medienträgerhersteller auch erfüllt worden sind,
selbst wenn Daten- und Dateiformate die Zeit überlebt haben sollten.

Natürlich ist Redundanz an sich gut für den Langzeiterhalt. Und
selbstverständlich ist die Medienintegration der Vergangenheit in unsere
heutige Gegenwart nicht nur für Rechteinhaber und Programmorganisationen
von großem wirtschaftlichem Wert; wir ziehen insgesamt kulturellen
Gewinn aus der kulturellen Digitalisierung im Archivwesen. Und es
spricht selbstverständlich überhaupt nichts dagegen, mit Algorithmen
digital in die inhaltliche Textur eines analogen Artefakts einzugreifen,
sofern das analoge Artefakt davon unberührt bleibt und als solches
weiter zugänglich bleibt. Aber zu wagen, aus der gesamten kulturellen
Digitalisierung Schlussfolgerungen für den Langzeiterhalt der medial
überlieferten Vergangenheit des 20. Jahrhunderts zu ziehen, halte ich
für extrem vermessen und für eine Fehleinschätzung mit katastrophalem
Ausgang. Und der wird meiner Ansicht nach darin bestehen, dass die
zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein einziges medial schwarzes Loch
für die Menschen des 22. und 23. Jahrhunderts werden wird, wenn nicht
bereits früher.

Und hier sehe ich den Wendepunkt einer zunehmenden Totalisierung durch
und mit Medien: Von den Zeitgenossen, die der Meinung sind, sie seien
die jemals am Besten medial durch AV-Medien Repräsentierten aller
Zeiten, wird nichts mehr bleiben – noch nicht einmal die gedankliche
Vorstellung davon.

Das ist ein ähnlicher Drehtüreffekt, wie wir ihn in der Computertechnik
heute beobachten können. Man war ja beispielsweise bis zum Ende der
1990er Jahre der Meinung, dass man die militärische Natur der frühen
Computerzeit durch den damaligen libertinären Geist der Hacker-Kultur
dauerhaft humanisieren könne – von der individuell verfügbaren
Rechenkraft und der Wiederauflage des Netzwerkgedankens bis hin zur
Wiederbelebung des Allmenden-Gedankens in der Free-Software- und
Open-Content-Bewegung – und dies in einer bislang singulären kulturellen
Kraftanstrengung. John Markoff hat darüber ja vor kurzem ein sehr
interessantes Buch geschrieben.[2]

Wenn Sie dann aber beispielsweise den News-Ticker (1) des Heise Verlags
von 1996 mit dem von 2006 vergleichen, staunen Sie nicht schlecht, in
welches totalitäre Zwangssystem wir alle plötzlich geraten sind. Gleich
aus welchem Grund oder mit welcher Begründung: Über mehr als die Hälfte
an Beiträgen bei der derzeitigen Meldungslage hätten die bekannten
Repräsentanten von Zwangsorganisationen des 20. Jahrhunderts, die zu
Recht üblich Verdächtigten, ihre wahre Freude gehabt. Mir war bereits
bei der Verrechtlichung des Internet-Raums schon deutlich, dass sich die
staatliche Aneignung dieser angeblich "humanisierten Technik" spätestens
dann fürchterlich rächen dürfte, wenn die wirtschaftlich-industrielle
Basis der Verstaatlichung in Nationalstaatsgröße zusammenbrechen wird,
weil dann die angeblich humanisierte Technik nur noch totalitär
anwendbar ist, gegenüber allen Bürgern eines ehemals demokratischen
Gemeinwesens. Es gibt also gute Gründe dafür medial abzurüsten, ob für
private Bankgeschäfte, bei Wahlurnen und Bewegungsbildern oder beim
Erhalt von bewegten und tönenden Bildern. Die
kulturell-gesellschaftlichen Folgen der Digitalen Epochenwende sind mit
der Perpetuierung des Nationalstaatsgedankens inkompatibel.

Günter Lützkendorf: Was schlagen Sie also vor?

- Was bleiben wird, ist das, was irgendwo von sich aus liegen geblieben
ist, liegen bleiben konnte und sich ohne äußere Energiezufuhr weiter
erhalten hat. Natürlich hält nichts ewig. Und natürlich kann
Digitalisierung, wenn man sie als Massenbetrieb organisiert, ein
lukratives Geschäft sein. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass es
der konsequent nächste Schritt ist zu überlegen, welche Methoden des
kulturellen Langzeiterhalts von audiovisuellen Inhalten erarbeitet
werden können. Im audio-visuellen Bereich geht es dabei insbesondere um
die Bewahrung der Kontinuität von analogen Geräten, Formaten und
Aufzeichnungen.

Wir werden dabei etwa auch bald um die Einrichtung einer kulturellen
Selektion von digitalen Artefakten für eine mögliche Reanalogisierung
nicht herumkommen. Je früher diese Selektion einsetzt und je eher
Methoden der Reanalogisierung gefunden werden, desto besser. Schließlich
benötigen wir einen Konsens darüber, was wir bereit sind, für den Erhalt
unserer kulturell-medialen Überlieferung wirtschaftlich zu opfern. Ein
Raum der Beliebigkeit als Ort eines Fernsehmuseums wird da nicht
reichen. Und ob die Kernaufgabe des öffentlichen Rundfunks sich in der
Abwicklung von Pensionslasten oder einer kläglich zeitgenössischen
Produktion erschöpfen soll, oder ob nicht gerade das
öffentlich-rechtliche Institutionsmodell zumindest für eine
Übergangszeit als exakt das am besten geeignete Modell dafür erscheint,
welches sich die Problemstellung des Langzeiterhalts von audiovisuellen
Inhalten zu eigen machen sollte, wird der weitere Diskurs zeigen.

Joachim Polzer, geb. 1962, ist Medienhistoriker, Publizist und
Festivalmacher. Er gibt seit 1994 die Publikationsreihe "Weltwunder der
Kinematographie - Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Filmtechnik"
heraus. Zuletzt erschien der Band "Zur Geschichte des Filmkopierwerks -
A Short History of Cinema Film Post- Production". 2005 gründete er das
"Globians Film Festival" in Potsdam, welches im August 2007 in die
dritte Saison geht. Zur Zeit erforscht er die "Geschichte der
Bildplatte" an der Staatlichen Filmakademie von Prag (FAMU).


Literaturangaben

[1] John Markoff. What the Doormouse said. Viking: 2005
[2] James Lovelock. The Revenge of Gaia. Penguin: 2006.

Links
(1) http://www.heise.de/

Telepolis Artikel-URL: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23910/1.html


Copyright © Joachim Polzer

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