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[InetBib] "Zerlesene Breviere"



Liebe Liste,

guten Gewissens hat man in Eichstätt aus dem Bestand der Kapuziner "zerlesene 
Breviere" makuliert. 
In der Tat scheint diese Art von Literatur nicht besonders interessant zu sein. 
Alle Bücher sind ja gleich. Ja? Breviere sind, werden sie vollständig 
bibliographisch erschlossen, hoch kompliziert. Neben dem "Stammteil", der in 
der Tat meist (!) gleich ist, sind hier besonders die beigebundenen Anhänge 
ohne Titelblatt von Interesse, die diverse Proprien, also Eigenfeste, enthalten.

In den herkömmlich katalogisierten Brevieren werden diese Proprien nicht eigens 
aufgeführt. In der Konsequenz sind viele Proprien nur noch zufällig greifbar.

Hier einige Beispiele aus der Praxis:

- Im kirchlichen Amtsblatt Freiburg aus den 60'er oder 70'er Jahren suchte das 
Ordinariat nach frühen Fassungen des Freiburger Propriums (19. Jahrhundert). 
Sie waren in der kirchlichen Verwaltung nicht mehr greifbar bzw. auffindbar.

- In meiner Zeit als Freiburger Referendar habe ich mir alte Breviere im 
Bestand der UB angesehen. Nahezu alle Breviere hatten unterschiedliche Proprien.

- Die Vize-Provinz der Passionisten verwahrt in der Sakristei des Provizialates 
in Müchen alte Breviere (Zeitraum ca. 1900-1965). Jedes (!!) Brevier hatte 
unterschiedliche Proprien mit unterschiedlichen Versionen der liturgischen 
Eigentexte. Gleiches gilt für die Missalia.

- Neulich konnte ich in einem Münchener Antiquariat in der "Krabbelkiste" (ich 
meine, dort Predigtliteratur vor 1800 aus Kapuziner-Provenienzen gesehen zu 
haben ...) für ein paar Euro ein Dominikanisches Proprium (eigener Ritus!) aus 
dem 18. Jahrhundert erwerben (Prager Druck). Beigebunden waren nicht weniger 
als 20 (!) verschiedene Ergänzungen zu neuen Heiligenfesten. Zudem gab es 
handschriftliche Eintragungen, etwa zu besonderen persönlichen Gedenktagen, 
"dies ordinationis meae" etc. etc.

Soweit zu den Büchern.

Nun zum "Zerlesen". Zerlesen bedeutet: benutzt. Ein benutzes Brevier ist für 
die Spiritualität des jeweiliges Klerikers höchst aufschlußreich. Da sind die 
eingelegten Gebetszettel, die einen interessanten Kontrast zwischen offizieller 
Frömmigkeit der lateinischen Liturgie und privatem Beten offenbaren. Mitunter 
finden sich auch handschriftliche Eintragungen, insbesondere Texte zur 
Gewissenserforschung oder Bruderschaftsgebete. Interessant sind auch die 
Profeß- oder Primizbildchen. 

Kurz und gut: Zerlesene Breviere sind eine Fundgrube für die 
Liturgiewissenschaft, die Ordens- und Frömmigkeitsgeschichte.
Leider werden sie nahezu ausnahmslos makuliert. Leider kennen viele 
Liturgiewissenschaftler die Besonderheiten der alten Breviere kaum noch. Auch 
in den Orden ist das Wissen um die eigenen Texte höchst mangelhaft.

Eine knappe Horizontabschreitung zu diesem Thema findet sich hier:

Steinhauer, ?Brevier lesen? ? Anmerkungen zum Wandel einer Buchkultur, in: 
CistC 108 (2001), S. 323-341.
Volltext: http://www.db-thueringen.de/servlets/DocumentServlet?id=2326.

Ders., Der kulturelle Auftrag der Ordensbibliotheken in Zeiten kirchlichen 
Umbruchs, in: Ordenskorrespondenz (OK) 44 (2003), S. 417 f. (Insbes. Fn. 4).
Volltext: http://www.db-thueringen.de/servlets/DocumentServlet?id=2593 

"Zerlesene Brevier" wirft man nicht weg. Wenn man keine Zeit hat, sie 
einzuarbeiten, sollten sie wenigstens als grob verzeichnete Konvulte aufbewahrt 
werden.

Eric Steinhauer



Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.