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[InetBib] Ulmer-Brief: Verfassungsbruch?



Sehr geehrter Herr Ulmer,

Verfassungsbruch ist ein großes Wort, das man mit Bedacht und Verantwortung 
gebrauchen sollte.

Die Forderung nach Open Access als Verfassungsbruch zu kennzeichnen, liegt nach 
meinem Verständnis der einschlägigen Grundrechte neben der Sache. 

Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit schützt den Wissenschaftler in 
Forschung und Lehre umfassend. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass auch 
die Entscheidung, wo publiziert wird, Sache des Wissenschaftlers sein sollte. 

Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit schützt aber auch den Wissenschaftler 
bei der wissenschaftlichen Literaturrecherche. Zugangsmonopole zu 
wissenschaftlicher Literatur können hier die freie und ungehinderte Ausübung 
des Grundrechts empfindlich stören.

Im Bereich der gedruckt vorliegenden Literatur schützt der 
Erschöpfungsgrundsatz in § 17 Abs. 2 UrhG den Zugang zu Büchern und 
Zeitschriften vor einem limitierenden Zugriff der Verwerter und sichert so die 
Recherchefreiheit des Wissenschaftlers, eine notwendige Voraussetzung jeder 
Publikationsfreiheit.

Im Bereich der vornehmlich digital vorliegenden Werke fehlt eine dem  
Erschöpfungsgrundsatz entsprechende Regel. Hier setzt das 
Zweitveröffentlichungsrecht an. Es gibt dem Wissenschaftler die Möglichkeit, 
seine Werke nach einer gewissen Frist unabhängig von der konkret geschlossenen 
vertraglichen Vereinbarung, erneut und für jedermann frei zugänglich zu 
publizieren.

Es ist ein Recht, keine Pflicht. Die Gewährung eines Rechts, also eines Mehr an 
Freiheit, kann für den Wissenschaftler keine Einschränkung seiner 
Publikationsfreiheit bedeuten.

Für die Verleger freilich stellt es sich als Eingriff in ihr Grundrecht auf 
Eigentum aus Art. 14 GG und möglicherweise auch in ihre Berufsfreiheit aus Art. 
12 GG dar. Dieser Eingriff ist aber verhältnismäßig. 

Die Verwertung wissenschaftlicher Literatur ist etwas anderes als die 
Verwertung etwa von Star Wars oder Harry Potter. Es gibt keine Freiheit der 
Unterhaltung, die notwendigerweise den Zugang zu einschlägiger Literatur 
voraussetzt, wohl aber eine Freiheit der Wissenschaft, die ohne zugängliche 
Quellen nicht leben und atmen kann.

Es ist Sache des Gesetzgebers, hier angemessene Bedingungen zu garantieren. 
Dazu gehört ein schonender Ausgleich aller beteiligten Rechtspositionen. Durch 
eine Embargofrist wird die Investition des Verlages geschützt, durch das bloße 
Veröffentlichungsrecht die Freiheit des Wissenschaftlers, selbst über das 
Ausmaß seiner Sichtbarkeit zu entscheiden. Eben das ist Publikationsfreiheit. 

Das Zweitveröffentlichungsrecht ist von der Überzeugung getragen, dass es Sache 
der Wissenschaft selbst sein muß, über die Sichtbarkeit und Zugänglichkeit 
ihrer Publikationen zu entscheiden. Das genau ist die im Grundrecht der 
Wissenschaftsfreiheit letztlich gewährleistete Selbstorganisation der 
Wissenschaft, die der Gesetzgeber ermöglichen, aber eben nicht selbst in die 
Hand zu nehmen hat.

Die Verfassung gibt vor diesem Hintergrund keine Freiheit, mit 
wissenschaftlicher Literatur durch künstliche Verknappung überhohe Renditen zu 
erzielen. Verleger mögen diese Aussage vielleicht anstößig finden, sie folgt 
aber aus der durch das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit verstärkten 
Sozialbindung des Eigentums aus Art. 14 Abs. 2 GG. 

War es wegen des Erschöpfungsgrundsatzes zum Zeitpunkt der lediglich gedruckt 
vorliegenden Literatur nicht notwendig, hier gesetzgeberisch regulierend 
einzugreifen und das Urheberrecht im Sinne der Wissenschaftsfreiheit 
auszugestalten, so stellt sich im digitalen Zeitalter diese Notwendigkeit mit 
Dringlichkeit.

Ich sehe keinen Grund, warum wissenschaftliche Verlage sich hier verweigern 
sollten. 
Es kann nicht angehen, einerseits von der Wertschätzung der Wissenschaft zu 
leben, Zeitschriftentitel und Schriftenreihen haben daher und zwar nur daher 
ihren Wert, andererseits der Wissenschaft insbesondere im digitalen Bereich die 
Zugänglichkeit ohne Not zu erschweren. 

Ich stimme mit Ihnen überein, dass ein Zweitveröffentlichungsrecht nicht an der 
Tatsache der öffentlichen Finanzierung von Forschung hängen kann. Es sollte für 
JEDEN wissenschaftlich arbeitenden Autor gelten. Privatgelehrte sind im 
Vergleich zu Hochschullehrern nicht Grundrechtsträger zweiter Klasse. Es gibt 
nur ein Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit. Und das ist ein Jedermann-Recht.

Ob der Gesetzgeber den wissenschaftlichen Autoren tatsächlich ein 
Zweitveröffentlichungsrecht zubilligen wird, vermag ich nicht zu sagen. Es kann 
gut sein, dass die Überzeugungsarbeit interessierter Kreise dieses zu 
verhindern weiß. Damit werden gewisse Entwicklungen aber vielleicht eher 
beschleunigt. Entwicklungen, die manchen wissenschaftlichen Verlagen vielleicht 
nicht lieb sind. 

Sichtbarkeit ist die Währung der Wissenschaft. Wer sie gewährt, gewinnt 
Autoren, wer sie nimmt, wird verschwinden. Wenn nicht der Gesetzgeber es 
richten wird, der Markt wird es ganz sicher tun.

Damit hier kein Mißverständnis auftritt. Die Wissenschaft braucht Unternehmen, 
die den Publikationsprozess professionell besorgen. In diesem Sinne wird es 
Verlage immer geben. Die Rendite dieser Verlage wird aber nicht mehr durch die 
Beherrschung von content, sondern durch die Leistung von Mehrwert 
erwirtschaftet. Im Zeitalter des Internet und der umfassenden Vernetzung wird 
die Wissenschaft die Beherrschung des content durch kommerzielle Verwerter auf 
Dauer nicht mehr akzeptieren. Der Mehrwert, den ich meine, kann auch das 
gedruckte Buch sein, das an ein Wert an sich ist und durch eine pdf-Datei in 
keiner Weise substitutiert wird.

Ein Letztes noch: Sie sagen, Autoren müssen einen Vertrag nicht unterschreiben. 
Das stimmt. Aber wenn Verlage bestimmte Zeitschriften, deren Wert sich, wie ich 
oben schon geschrieben habe, allein von der Wissenschaft herleitet, wenn also 
Verlage den Zugang zu diesen wichtigen Zeitschriften von Bedingungen abhängig 
machen, die Autoren nicht verhandeln können, dann ist die Vertragsfreiheit 
gestört, sofern der Autor aus wissenschaftsimmanenten Gründen auf eine 
Publikationen in eben dieser Zeitschrift nicht verzichten kann. Er wird zur 
schwächeren Vertragspartei. Wenn hier der Gesetzgeber durch die Gewährung eines 
Zweitveröffentlichungsrechts helfend zur Seite steht, ist das in Ordnung. Im 
Bereich des Verbraucherschutzsrechts finden sich vergleichbare Regelungen. 

Langer Reder kurzer Sinn: Die wissenschaftlichen Verlage tun gut daran, einen 
ehrlichen Dialog mit den Autoren zu beginnen und ihnen eine angemessene 
Sichtbarkeit ihrer Texte zu ermöglichen. Dazu gehört heute auch Open Access. 
Nebelkerzen und die unangemessene Rede von Verfassungsbrüchen sind hier nicht 
zielführend. Seien Sie sicher, wissenschaftliche Autoren denken bezeiten nach 
und sind fähig, sich des eigenen Verstandes ohne Hilfe anderer zu bedienen. Es 
wäre in der Tat ein herber Kulturverlust, in der künftigen Welt des 
wissenschaftlichen Publizierens auf die Erfahrungen der Vergangenheit 
verzichten zu müssen. Ich bin überzeugt, dass der Verlag mit Tradtion auch eine 
Zukunft hat. Aber die hat er nur mit und nicht gegen seine Autoren. 

Freundliche Grüße

Eric Steinhauer



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