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Re: [InetBib] Friede den plumpen Servern




On Apr 1, 2009, at 3:28 PM, Matthias Ulmer wrote:

Dem ersten Teil Ihrer Ausführung kann ich ja noch folgen. Aber beim zweiten verirren SIe sich. Mir stellen sich wirklich die Nackenhaare auf, wenn ich lese, dass Verlag zu viel, vor allem Unsinn, vermarkten. Und dass der Grund zur Einführung des öffenntlichen bibliothekswesens der war, dass man das Publikationsunwesen eindämmen wollte, das versehe ich aus reiner Unwissenheit mit drei großen Fragezeichen und überlasse es anderen, hier etwas gerade zu rücken.

Man wollte nicht das "Publikationswesen eindaemmen" sondern das Lesen guter Buecher foerdern, das ist ein gewaltiger Unterschied.

Wir Verleger sind es ja gewohnt, dass laufend Vorwürfe wie Titelflut!, Wer soll das denn alles lesen... und so weiter kommen. Ich frage dann ganz direkt: benennen Sie die Titel, die in Ihren Augen nicht hätten erscheinen dürfen. Da wird den Angesprochenen dann doch etwas schwummrig.

Ich war nie der grundsaetzlichen Meinung, dass zu viel publiziert wird, und da ich mich schon seit langem mit der Verdopplungsrate der Literatur beschaeftige, weiss ich auch, dass das seit Jahrhunderten ganz konstant und organisch mit einer Verdopplungsrate von 20 Jahren waechst. Die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen waechst direkt proportional zur Zahl der Wissenschaftler(innen). Das einzuschraenken wuerde bedeuten, weniger Wissenschaft zu betreiben. Das waere in einer Wissenschaftsgesellschaft voellig abwegig.

Ich sehe aber auch die Auflagenzahlen von Schund. Gleichgueltig ob er 1940 oder nach dem Krieg in Ost- oder auch in Westdeutschland erschienen ist (auch (pseudo)wissenschaftlichen Schund). Wer den Lesern einreden will, dass Literatur grundsaetzlich gut ist, immer die Bildung foerdert, oder dass Lesen immer nur positiv ist, ist weltfremd oder massiv interessengeleitet. Die Zahl der Titel die nicht haetten erscheinen muessen ist doch viel zu lang, als dass ich sie hier nennen koennte. Denken sie doch nur mal an "Verherrlichung von Gewalt". Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich habe "Mein Kampf" von Hitler gelesen, und es waere gut, er waere zunachst gut gewesen, er waere gar nicht erschienen, dann nicht so oft verkauft und verschenkt worden, aber nachdem er publiziert war, oefter gelesen worden. Es ist wirklich hahenbuechender Unfug, der schon allein zum Verstaendniss des sog. Dritten Reiches, in Bibliotheken stehen sollte. Wenn der Unsinn schon mal in der Welt ist, muss man ihn widerlegen und kann ihn nicht einfach so stehen lassen, das ist das Problem.

Es ist kulturelle Vielfalt, die durch die hohe Zahl an Titeln signalisiert wird. Noch nie war es einfacher zu publizieren. Noch nie gab es mehr Möglichkeiten. Noch nie waren Bücher zugänglicher als heute. NNoch nie waren sie in den Medien, im Alltag präsenter. NNoch nie hbane so viele Menschen vom Schreiben leben können. Noch nie waren Bücher billiger als heute.

Welche Publikationen meinen Sie, die billigen mit Massenauflagen oder die teuren wissenschafltichen? Seien Sie bitte vorsichtig, bevor Sie "beide" antworten. Das Problem muss im Bereich der Wissenschaft im Verhaeltnis zur Gesamtmenge des Publikationsaufkommens gesehen werden.

Das ist ein kultureller Höhepunkt, da bin ich aktuell nicht optimistisch, dass man das noch steigern wird. Es gibt zu viele, die durch ihr beharrliches Sägen am Urheberrecht den Verfall dieser Kultur befördern.

Ich kann nur immer wieder wiederholen. Solange man im Urheberrecht nicht zwischen Information, Redundanz und Rauschen zu unterscheiden vermag, und Wissen als eine Ware wie jede andere zu begreifen versucht,
wird man der "Geisteswirtschaft" (Harnack) nicht gerecht werden koennen.

Vielfalt ist ein Kriterium, das man als Grad für Freiheit und Marktzugang nehmen kann. Über Qualität soll jeder selbst entscheiden und auswählen, was er mag und was er nicht leiden kann. Es soll nur nnie jemand für mich aussuchen, was ich zu mögen habe. Und ich will auch keinen Markt, in dem nur das noch erscheint, was bestimmte Institutionen mögen und der Rest bleibt weg.

Dacor. Darum brauchen wir ja die Digitale-Bibliothek, die das absichert, und die nicht nur gedruckte Buecher in ausreichendem masse hat, sondern auch alle anderen Publikationen. Anderenfalls haben die meisten Menschen nur noch die Information die sie sich leisten koennen, und das ist schon allein bei rund hundert Millionen Buchtiteln in der Welt fast nichts.

In diesem Sinne kann ich auf das Gute Buch gut verzichten und finde meine Lieblingsbücher gut und kein anderes.

Im Prinzip haben Sie voellig Recht. Was ein gutes Buch ist, entscheidet jeder nach seinem geistigen Horizont (Jedem Leser sein Buch - Ranganathan). Der Feind des guten Buches ist das Bessere, das in einer Bibliothek moeglichst direkt daneben stehen sollte.

MfG

W. Umstaetter




Herzliche Grüße
Matthias Ulmer



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Am 01.04.2009 um 14:02 schrieb Walther Umstaetter:


On Mar 31, 2009, at 11:43 PM, Matthias Ulmer wrote:


Mein Angebot zur Abrüstung:
Open Access ist ein gutes Modell (unter anderen) für wissenschaftliches Publizieren. Es wird nicht billiger (von den Produktionskosten her) wenn die Hochschulen es selbst machen. Aber das ist nicht mein Problem als Verleger, sondern als Steuerzahler (aber das ist Aufgabe des Rechnungshofes). Die naturwissenschaftlichen Zeitschriften einiger weniger Verlage sind skandalös teuer. Und die große Zahl der kleinen und mittleren Verlage tragen als Kolateralschaden nun die Folgen. Die Budgets für Bildung und Wissenschaft sind skandalös niedrig. Eine Schande. Ein gemeinsamer Protest hier hätte uns alle viel weiter gebracht.

Herzlichst
Ihr Matthias Ulmer

Sehr geehrter Herr Ulmer,

ich denke, hier bringen Sie das eigentliche Problem auf den Punkt. Einige wenige Verlage schoepfen in den Bibliotheken fast die gesamten Etats ab. Sobald diese erhoeht werden, verlangen die wenigen Verlage entsprechend mehr, und der "Kolateralschaden" waechst entsprechend mit. Open Access ist die zwangslauefige Folge dieser Verlagspolitik, die sich auf ein Copyright stuetzt, dass zur Zeit nur die reichsten Verlage schuetzt, auf Kosten der zahllosen OA-Bemuehungen, kleinen und mittleren Verlage. Wenn man bedenkt, was die Bundesrepublik an immer hoeheren Nationallizenzen, die Laender, die Verbuende, die UBs und nicht zuletzt die Forschungsfoerderung fuer das wissenschaftliche Publikationswesen zahlen, dann bringt es leider nichts, hoehere Budgets zu fordern, die lediglich die Gewinne von Elsevier, Thomson etc. in die Hoehe treiben. Deren elektronische Produkte werden laengst zu hoch gewinnbringend vermarktet. Ich kenne die Impact Factors zu gut, um nicht zu wissen, wie viel Unsinn darueber schon geschrieben wurde.

Das eigentliche Problem liegt darin, dass Produkte, die nur wenige Cent fuer Tausende von Nutzern kosten duerften, von wenigen Benutzer mit tausendfach ueberhohten Kosten belegt werden. Das ueber Wissensbanken in den Griff zu bekommen ist das eigentliche Problem von WEB 2.0, und daran wird ja auch fleissig gearbeitet. Fuer eine wissenschaftliche Publikation in einer Zeitschrift 40 Euro zu bezahlen, um dann als Wissenschaftler festzustellen, dass sie unsinnig ist, was ich aber erst beurteilen kann, nach dem ich sie sehr genau gelesen und auch ihre Referenzen, die ebenso teuer sind, geprueft haben, ist im Prinzip absurd. Ich spreche hier natuerlich nur von diesem schmalen Publikationsbereich der Wissenschaft, der in diesem Fall allerdings auch Lehrbuecher einschliesst. Denn wenn man in ein Fachgebiet immer tiefer eindringt, erkennt man auch immer haufiger, wie viel Fehler zwangslaeufig auch in Lehrbuechern stehen.
Sonst brauchten wir keine Wissenschaft mehr.
Im Moment haben wir bei E-Books die selbe Crux. Die Preise sind viel zu hoch, weil die Verlage, vereinfacht gesagt, davon ausgehen, dass mit jedem verkauften E-Book hunderte von Kopien mitlaufen. Und nun wird versucht, die Information mit allen erdenklichen Mitteln zu verknappen, damit sie in das veraltete Marktschema der Wirtschaftwissenschaftler passt.

Ueber den z.T. groben Unfug, der in der Belletristik vermarktet wird, will ich mich hier gar nicht naeher auslassen, denn wer heute in einen Buchladen geht, kann rasch erkennen, wie viel Unsinn von den Verlagen mit hohen Werbekosten hier vermarktet wird. Da waere eher an Sanktionen bei denen zu denken, die diese Volksverdummung verursachen ;-) Das war einst der Grund zur Einfuehrung Oeffentlicher Bibliotheken, dieses Publikationsunwesen einzudaemmen. Eine Aufgabe die von Bibliotheken wieder staerker in den Fokus gerueckt werden sollte.

Es gibt Verlage mit hohem Qualitaetsanspruch, deren Feinde sind nicht die Bibliotheken, sondern die skrupellosen Verlage. Das gute Buch ist weitgehend von den "Bestsellern" verdraengt worden, und dazu gehoeren Beispiele, wie die "Feuchtgebiete". Nur weil zu viele Menschen aufgrund irrefuehrender Reklame einiger Verlage nicht mehr zwischen gut und schlecht, geschweige besser und schlechter zu unterscheiden vermoegen, schreiben inzwischen Massenmedien vor, was diese Woche gelesen werden muss, um Inn zu sein. Als gaebe es in dieser Welt nichts wichtigeres zu tun.

Was wir brauchen ist einen gemeinsamen Protest gegen Skrupellosigkeit (nicht nur bei Banken ;-), damit die Etats (hoeher als heute) an die richtigen Stellen bei den Autoren und Verlegern fliessen koennen.

Das muss das Ziel von WEB 2.0 sein. Im Moment ist das aber noch nicht erkennbar. Im Moment werden nur die Grossen immer groesser, auf Kosten der kleinen (und es klingt nach Platituede, ist aber Realitaet), und die Reichen immer reicher auf Kosten der Armen. Insofern sehe ich es in Twitter beispielsweise auch eher als eine Frage der Informationskompetenz, was man nicht nutzt, nicht liest und an Unsinn nicht verbreitet, um sich auf das Wesentliche konzentrieren zu koennen. In der Informationstheorie nennt man das Rauschen, das unterdrueckt werden muss, um die echte Information und insbesondere das Wissen herausfiltern zu koennen. Es gibt auch im Verlagswesen zu hohe Rauschquellen, die zu viel Schaden anrichten.

MfG

W. Umstaetter


P.S. Da ich gerade die Ankuendigung "Wissenschaftliche Bibliothekare im Nationalsozialismus" sehe, denke ich, dass man die eigentliche Problematik der damaligen Zeit, die der damals modernen Bibliothekare, die sich zunehmend als Dokumentare verstanden, nicht uebersehen sollte, so schmerzlich das fuer Deutschland war und ist. Die Tatsache, dass damals das "Gute Buch" grundsaetzlich ein nationalsozialistisches Buch werden sollte, hat ja das "Gute Buch" so in Verruf gebracht, so dass sich nun, nach der zusaetzlichen Erfahrung mit dem guten kommunistschen Buch, kaum noch jemand traut zu sagen, was ein "Gtes Buch" ist. Damals konnten sich aus meiner Sicht, Bibliothekare vor dem Nationalsozialismus nur retten, in dem sie moeglichst historisch arbeiteten. Der Schaden fuer das moderne Bibliotheksesen ist noch bis heute spuerbar.










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