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Re: [InetBib] Wahlprüfsteine der BID zur Bundesta=9=67swahl



Lieber Herr Steinhauer,

ein meist unbeachteter Vorteil der Demokratie ist, dass man sich für  
seine Ideen einsetzen kann, ohne zu allen anderen Stellung beziehen zu  
müssen.

Historische Vergleiche hinken immer. Aber ich sehe als oberflächlicher  
Beobachter der Piraten nicht die gleiche Substanz wie bei den Grünen.  
Aber wie der Kaiser richtig sagt: schaun mer mal.

Als Angehöriger der Kulturindustrie beobachte ich die Piraten weniger  
von ihrer politischen Relevanz sondern vielmehr als soziales und  
kulturgeschichtliches Phänomen. Und da bieten sich schon Ansätze für  
das eine oder andere Gedankenspiel.

Dabei verblüfft es mich nicht, dass manche onlineorientierte  
Bibliothekare sich mit Ideen der Piraten identifizieren. Mein Bild der  
Bibliothekarszunft wird um einen Mosaikstein reicher.

Herzliche Grüße
Matthias Ulmer

PS: Ich möchte Ihnen bei der Gelegenheit für Ihre ausgezeichneten und  
differenzierten Beiträge in Ihrem Blog danken! Das ist immer ein  
Gewinn und ich wünschte, die Taktung wäre kürzer.



Am 20.07.2009 um 14:09 schrieb Eric  
Steinhauer<eric.steinhauer@xxxxxxxxx>:

Lieber Herr Ulmer,

der herzigen Schilderung Ihrer häuslichen Szene entnehme ich nicht n 
ur, dass wir hier in der Liste gewissermaßen en famille sind, was do 
ch sympathisch ist, sondern auch, dass dem Piraten-Thema Unterhaltun 
gswert zukommt.

Offenbar rührt dieser Wert daher, dass die Piraten irgendwo zwischen 
 Lästling und Sommerloch zu verorten, keinesfalls aber ernst zu nehm 
en sind.

Man muß kein Pirat sein, um zu sehen, dass "Urheberrecht und Datensc 
hutz" in der sich formierenden Wissensgesellschaft von nicht zu über 
schätzender Bedeutung sein werden. Ich halte die Aussage, dass die P 
iraten mit ihren Themen vergleichbar sind mit den Grünen und deren ö 
kologischen Anliegen in den 70er und 80er Jahren, für sehr plausibel.

Wäre ich Politikwissenschaftler, würde ich genau jetzt beginnen, rel 
evantes Material zu sammeln. Hierbei wäre ein Vergleich zu den Reakt 
ionen der Etablierten auf die Grünen in ihrer Anfangszeit sehr lehrr 
eich.

Ein paar Kostproben aus dem Spiegel. Die sind übrigens im Rückblick  
auch unterhaltsam:

"Arbeit für die Schmuddelkinder" : SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann 
 über die Grünen und ihre Wirkung im Bonner Parlament, Spiegel 50/19 
84:

"Am liebsten würden sie die "ganze Mischpoke" rausschmeißen, bekennt 
 ein Volksvertreter der Union offen und von Herzen. Dieser Wunsch st 
eckt ja auch hinter den Kohlschen Umschreibungen von den Grünen als  
"vorübergehendem parlamentarischen Zustand". So wie sie reden, ausse 
hen und sich verhalten, gehören sie eigentlich weder in den Bundesta 
g noch überhaupt in "diesen unseren Staat". Denn die Standardfloskel 
 der jetzt Regierenden ist so gemeint, wie sie klingt: besitzergreif 
end.

Fast immer entzündet sich der Krawall an Formalien. Daß grüne  
Argumente zur Sache ohnehin "Blödsinn" sind, "grober Unfug", "Quatsc 
h mit Himbeersoße", wissen die grau und dunkelblau uniformierten Wür 
dewahrer von vornherein. Gegen unbequeme Inhalte sind sie seit Jahrz 
ehnten gewappnet."

Oder dies:
SPD: Ende der "Ära Stillgestanden"?, Spiegel 49/1979:

"Aufgeschreckt haben die Genossen nicht nur die Wahlerfolge der Grün 
en, sondern auch die damit verbundene Erkenntnis, daß sich die SPD i 
hrer einst unbestrittenen Stammklientel, der jungen Generation, läng 
st nicht mehr so sicher sein kann wie bisher. In dem Haufen von Zivi 
lisationskritikern, Ökologen und politisch Versprengten hat SPD-Mdß  
Karsten Voigt bereits "Anzeichen einer Gegengesellschaft" ausgemacht.

Der ehemalige Juso-Chef warnt: "Die Alternativbewegung mag nur zwei,  
drei bis sechs Prozent der Bevölkerung umfassen, dies ist nicht mehr 
heitsfähig.Aber dies ist fähig, unsere Mehrheit zu verhindern."

Oder das:
Rot einfärben, Spiegel 46/1979

"Noch sind die Grünen ohne Perspektive und Programm. Doch die bloße  
Aussicht, sie könnten sich zu einer ernst zu nehmenden politischen K 
raft auf festem Standort mausern, treibt schon jetzt die Sozialliber 
alen zu hektischen Überlegungen, wie denn die Bewegung zu stoppen se 
i."

Und schließlich dies:
Keine Schwarzen, keine Roten, einfach Grüne", Spiegel 24/1978

"De Umweltschützer wiederum reüssierten, für viele überraschend,  
keineswegs nur, wo Atom-Projekte anstehen wie in Gorleben, Kreis Lüc 
how-Dannenberg (17,8 Prozent): Sie erwiesen sich vielmehr, so die Wa 
hlforscher vom Bad Godesberger "Institut für angewandte Sozialwissen 
schaft" (Infas), als eine "in allen Regionen" erfolgreiche Protestbe 
wegung.
...
Zu begegnen hatten die grünen Wahlkämpfer vor allem Vorurteilen, die 
 Parteifunktionäre (FDP-Geschäftsführer Günter Verheugen.,,  
Spinner und Sektierer") wie Presseleute über sie in Umlauf brachten. 
 Gängig war die Behauptung, die Neuen seien extremistisch unterwande 
rt -- teils von rechts-, teils von linksaußen.
...
Die Grünen -- radikaldemokratisch. wachstumskritisch, umweltfanatisc 
h -- wollen, so ein hannoverscher Funktionär, "keine verkappten Schw 
arzen und keine verkappten Roten sein, sondern einfach Grüne". Solch 
em Anspruch auf Eigenständigkeit entspricht ein Programm, das mittle 
rweile keineswegs nur den einen Punkt Atom-Abwehr umfaßt."

Was aus der "Ein-Punkt-Partei" geworden ist, wissen wir  
mittlerweile. Die Themen der Piraten besitzen eine vergleichbare  
gesellschaftliche Relevanz. Dass sich hier vielleicht nicht ganz so  
viele Menschen prima vista davon betroffen fühlen, wie von einer ver 
schmutzen Umwelt, ist sicher ein relevanter Unterschied, dass sich i 
m Gegenzug aber Teile der jüngeren technischen Interelligenz hier or 
ganisieren, lässt die Sache doch wieder spannend werden.

Wie gesagt, wäre ich Politikwissenschaftler, dann hätte ich jetzt ei 
n Thema mit Potenzial.

Bei wissenschaftsurheberrecht.de wurde die Piratenpartei übrigens be 
rücksichtigt.
http://www.wissenschaftsurheberrecht.de/2009/06/29/urheberrecht-bundestagswahl-6418035/
Schließlich haben sie ja einen Abgeordneten im Bundestag.

Viele Grüße
Eric Steinhauer

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