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Re: [InetBib] Urheberrechtsreform - Planungen



Lieber Herr Kuhlen,

jeder erschrickt eben anders. Es ist nicht für alle von uns alltäglich, dass 
man auf eine einfache Information hin solche Reaktionen bekommt und ich will 
auch nicht Gegenstand von formellen Auskunftsbegehren der dokumentierten Form 
werden. Aber wie gesagt, was der eine normal findet, das erschreckt eben 
andere. Das nur zur Gemütslage. Da ich aber einen offenen Gedankenaustausch 
schätze, will ich gerne meine persönlichen Überlegungen zu Ihren hinzufügen.

Ich denke ich verstehe Ihre Argumentation schon. Aber in der Praxis werden 
Gespräche ja sehr selten von einem Einigungspapier gekrönt. Meist erfolgt eine 
Abstimmung ohne schriftliche Fixierung, eine Koordination der Interessen durch 
gegenseitige Information über Interessenlagen, ein Ausloten des Machbaren. 
Solche Gespräche führt man ja nur mit Personen oder Institutionen, gegenüber 
denen man ein gewisses Vertrauen hat. 

An die Politik weitergeben darf jeder Teilnehmer solcher Gespräche jederzeit 
alles was er mag. Und eine Verpflichtung, die Öffentlichkeit darüber zu 
informieren gibt es sicher auch nicht. Wenn der dbv mitteilt, dass er dem 
Justizministerium eine Stellungnahme zum Thema übergeben hat, dann muss er das 
ja auch nicht offenlegen.

Und selbst wenn die Arbeitsgruppe ein Einigungspapier verabschiedet hätte, dann 
wäre das ja immer noch nicht verbindlich für die Politik, obwohl in der 
Arbeitsgruppe Justizministerium und BKM vertreten sind. Denn verbindlich in 
diesem Punkt ist erst dann etwas, wenn es das Parlament entschieden hat. Bis 
dahin kann man die  lustigsten Papiere verfassen.

Die Urheber sind an den Gesprächen indirekt beteiligt, durch die Verlage und 
die VG Wort. Die Themen werden in einer anderen Arbeitsgruppe in der VG Wort 
ebenfalls diskutiert, und da sind Schriftstellerverband und Übersetzerverband 
vertreten. 

Ich empfinde das Aktionsbündnis nicht als repräsentative Vertretung für 
Autoreninteressen. Es drückt viel eher Nutzerinteressen aus, abgesehen davon, 
dass die vom Aktionsbündnis vertretene Wissenschaft nur ein kleiner Teil des 
gesamten Urheberspektrums ist, kommerziell gesehen im Buchhandel etwa gerade 
noch 6,8% ausmacht, weiter abnehmend. Das sind Parikularinteressen. Und ich 
vermute, dass beim Thema verwaiste Werke das wissenschaftliche Schrifttum keine 
besonders große Rolle spielt.

Zur Vergütung: wir sollten zwei Aspekte unterscheiden: das berechtigte 
Interesse der Bibliotheken, so wenig wie möglich zahlen zu müssen, und das 
Rechtsempfinden (das natürlich bei jedem anders ist). Nur der zweite Punkt ist 
diskussionswürdig: zunächst bedeutet verwaist ja nur, dass ich jemanden nicht 
finde. Juristisch ist es unhaltbar, daraus zu schließen (wie es Frau Kustos 
gerne hätte), dass er vermutlich tot ist und keine Erben hat. Man kann (vermute 
ich) davon ausgehen, dass in 99,9% der Fälle die Person nicht tot ist oder 
Erben hat. Die Person ist eben nur nicht einfach auffindbar. Es ist anzunehmen, 
dass im Laufe der Zeit, mit der Implementierung von Datenbanken wie Arrows oder 
einem book register ein Großteil der Verwaisten wieder Eltern bekommt. Es ist 
schon deshalb naheliegend, dass die Vergütung irgend wann beim Rechteinhaber 
ankommt.

Nicht nachvollziehbar (nach meinem Rechtsempfinden) ist, dass Bibliotheken 
keine Vergütung zahlen wollen, wenn sie die Adresse von jemandem nicht schnell 
genug finden. Noch weniger nachvollziehbar ist  der Gedanke, dass ein Urheber 
keine Vergütung bekommen soll, weil er nicht innerhalb einer bestimmten Frist 
in eine Liste geschaut hat und sich gemeldet hat.

Natürlich bleiben am Ende Vergütungen auf dem Treuhandkonto stehen, die nicht 
ausbezahlt werden können, weil keine Erben existieren. In diesen Fälle wird 
vermutlich der Staat Rechtsnachfolger. Damit  steht dann die gesammelte 
Vergütung dem Staat zu. Aber meines Wissens ist "der Staat" nicht identisch mit 
"den Bibliotheken", die ja unterschiedlichster Trägerschaft sein können. Und 
das Eigentum an den Beträgen fällt auch erst dann an den Staat, wenn er 
Rechtsnachfolger wird, also auch dann ist das verwaiste Werk plötzlich nicht 
mehr verwaist sondern hat einen Rechteinhaber, der den gesammelten Betrag mit 
Recht beansprucht.

Dass Rechte von Urhebern (gemeinhin Urheberrechte genannt) der 
Massendigitalisierung entgegen stehen, das kann schon sein. Na und? Dass 
Bürgerinteressen einem Bahnhofsbau entgegen stehen können und man das nicht 
ignorieren darf, das muss die Politik ja auch gerade lernen. 
Massendigitalisierung scheint mir in unserer Gesellschaft kein prioritäres Ziel 
zu sein. Denn ohne Scham und ohne erkennbaren Widerspruch sagt ja eine 
Bundesregierung, dass sie dafür keine Gelder hat. Das Pflanzen von 
Stiefmütterchen auf Verkehrsinseln geht offensichtlich vor.

Herzliche Grüße
Matthias  Ulmer






Am 10.08.2011 um 20:04 schrieb Rainer Kuhlen:

Was, lieber Herr Ulmer, ist daran zum Erschrecken? Wenn es ein 
Einigungspapier gegeben haben sollte, dann hat m.E. die Öffentlichkeit 
ein Anrecht darauf, dieses wahrnehmen zu können. Wenn es keine 
schriftliche Einigung gegeben hat, dann reicht der Hinweis darauf, dass 
es nichts Vorzeigbares gibt, und es gibt dann auch keine darauf 
referenzierbar Einigung, die an die Politik weitergegeben werden bzw. 
auf die sie sich beziehen kann.

Also halten wir fest, dass es keine verbindlich erarbeitete Lösung gibt; 
so hatte ja auch Frau Niggemann Herrn Graf geantwortet. Es hat also nur 
fortlaufend Gespräche gegeben, die dann jeder der Beteiligten und die, 
die davon gehört haben (wie z.B. die SPD oder die VG-Wort oder ein 
Verlag), nach ihren Standpunkten/Interessen interpretieren und z.B. auch 
dem BMJ vermitteln können (aber wohl immer mit dem Autorität sichernden 
Verweis auf die "unstrittigen" Ergebnisse der Gruppe). Oder sollten wir 
die Statements, auf die Frau Niggemann freundlicherweise verwiesen hat, 
doch als die Einigung aller akzeptieren. Es hat dem ja wohl niemand 
widersprochen. Verstehen Sie bitte, wie kann man eine wie auch immer zu 
bezeichnende Einigung zwischen ja nicht unwesentlichen Partnern 
diskutieren, wenn es keine offizielle Referenz gibt, aber jeder der 
Beteiligten auf die erarbeitete Lösung verweist? Das ist nicht mein 
Verständnis von aufgeklärter politischer Öffentlichkeit. Natürlich kann 
jeder mit jedem reden, aber es ist schon etwas merkwürdig, dass bei 
diesen Gesprächen keine Vertretung der Interessen von Bildung und 
Wissenschaft, z.B. das Aktionsbündnis, hinzugezogen oder befragt wurde. 
Sicherlich können Bildung und Wissenschaft Partnern wie der 
Nationalbibliothek und dem DBV vertrauen, aber auch hier sind 
stellvertretende Interessenwahrnehmungen kein Ersatz für direkte 
Beteiligung.

In einer solchen Situation kann man nur spekulieren. Zudem wird man 
weiter bezweiflen dürfen, ob das, was Sie, Herr Ulmer, als die zentralen 
Punkte skizzierren, wirklich so "unstrittig" ist. Ich habe einige Daten 
aus einer universitäten Abschlussarbeit zur Einsicht, die ich leider 
noch nicht referenzieren kann, da das Verfahren noch nicht abgeschlossen 
ist. (Ich gebe zu, dass auch das nicht transparent ist.) Diese zeigen,  
dass aus der Praxis von Museen und Archive erhebliche Bedenken bestehen 
gegen die Anforderungen an eine diligent search (so wie im SPD-Entwurf 
angegeben) und gegen die Rolle der Verwertungsgesellschaften in dieser 
Sache, erst recht gegen die "Zahlung einer Vergütung mit 
treuhänderischer Verwaltung": sollen Bibliotheken, Archive etc. wirklich 
für jede in Angriff genommene Digitialisierung eine finanzielle 
Vorleistung auf Verdacht erbringen? Und wer bekommt das Geld, wenn sich 
hohe Überschüsse angesammelt haben? Auch gibt es bislang kaum 
praktikable Vorschläge für den Umgang mit multimodalen und temporalen 
Medien, die ja den größten Teil der verwaisten Werke ausmachen.

Ich hoffe, die Arbeit wird dann bald veröffentlicht werden. Mit Blick 
auf Massendigitalisierung hatte das Aktionsbündnis ja auch 
vorgeschlagen, anstatt einer aufwändigen und im Detail bislang nicht 
geklärten diligent search (auch der EU-Vorschlag ist hier noch sehr 
vage) eine (rechtlich legitimierte) befristete öffentliche Ankündigung 
der geplanten Digitalisisierung vorzusehen (also eine Art 
opt-out-Verfahren). Und nicht zuletzt  scheint mir noch gar nicht 
geklärt zu sein, ob es unterschiedliche Bedingungen für kommerzielle und 
nicht-kommerzielle Nutzung der verwaisten Werke geben bzw. ob es 
überhaupt eine kommerzielle Nutzung dieser Werke geben soll - und wenn 
doch, wie geklärt sein wird, dass daraus keine neuen exklusiven 
Verwertungsrechte entstehen (das war auch die Forderung der DFG). Auch 
ist der Status einer Regelung noch gänzlich unklar. Soll es nun doch 
nach dem Vorstoß der EU eine Schrankenregelung sein, oder wird die 
Regelung im Rahmen des Urheberwahrnehmungsgesetzes erfolgen? Die 
politischen Parteien im Bundestags sind sich recht uneinig darüber. Man 
darf gespannt sein, ob und wenn ja, wie das BMJ vorschlägt, diesen 
Knoten zu zerschlagen.

Im übrigen verweise ich darauf, dass es bei IUWIS (www.iuwis.de) ein 
Dossier zu den verwaisten Werken gibt, in das die verfügbaren Dokumente 
dazu eingestellt werden. Es wäre auch gut, wenn Diskussionen wie diese 
hier dort geführt werden könnten, damit sie auch dauerhaft transparent 
dokumentiert und verfügbar/referenzierbar gehalten werden können..
RK
Am 10.08.2011 07:30, schrieb Matthias Ulmer:
Lieber Herr Kuhlen,

die Form, wie hier gleich Offenlegung gefordert wird und einzelne in Rage 
geraten erschreckt mich und ich bereue sofort, überhaupt ein Wort dazu 
gesagt zu haben. Es wundert mich nicht, dass man in diesem Klima lieber 
schweigt als offen diskutiert.
Also: es gibt kein "Einigungspapier" das man offen legen könnte. Es gibt 
eine Arbeitsgruppe (vermutlich neben x anderen), die sich regelmäßig 
austauscht und durch gegenseitige Information versucht eine gute Lösung zu 
erarbeiten. Dabei informieren die Verbände, Ministerien, Kommission und 
Verwertungsgesellschaften über ihre Aktivitäten zum Thema verwaiste Werke 
und digitale Bibliotheken. Niemand weiß natürlich, was das Ministerium am 
Ende als konkreten Entwurf vorlegen wird. Aber es wäre eigenartig, wenn das 
ganz im Widerspruch zu den Gesprächen steht. Eigentlich finden Sie in dem 
Entwurf einer europäischen Richtlinie, in der Stellungnahme des Bundesrates 
und in der Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage die meisten 
Punkte beantwortet.
Diligent search, aber automatisiert, über vorgeschriebene Datenbanken, 
unterstützt durch Arrow, mit Dokumentation, Lizenzierung über die 
Verwertungsgesellschaft, Zahlung einer Vergütung mit treuhänderischer 
Verwaltung. So würde ich das aktuell knapp skizzieren.

Herzliche Grüße
Matthias Ulmer



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Am 10.08.2011 um 15:31 schrieb Klaus Graf:

On Tue, 09 Aug 2011 16:04:19 -0700
Rainer Kuhlen<rainer.kuhlen@xxxxxxxxxxxxxxx>  wrote:
Vielen Dank Herr Upmeier - ich denke, der DBV bewegt sich
hier in die
richtige Richtung, z.B. auch mit dem Hinweis auf eine
möglichst
weitgehende Automatisierung der diligent search. Der
SPD-Vorschlag z.B.
ist für die Bedürfnisse der Massendigitalisierung nicht
brauchbar.
Ich wundere mich allerdings über das Schweigen von Herrn
Ulmer auf meine
Aufforderung (INETBIB von gestern), die "nicht mehr
strittige Lösung"
öffentlich zu machen. Solange das "Einigungspapier" nicht
öffentlich
gemacht wird, gilt weiterhin die Kritik des
Aktionsbündnisses in seiner
Pressemitteilung schon vom 4.1.2011:

http://www.urheberrechtsbuendnis.de/pressemitteilung0111.html.de
und
darin u.a. die Aussagen, mit denen ich zitiert werde:

Kuhlen empfiehlt dringend, „die Bedenken zahlreicher
Bibliothekare und
Archivare gegenüber dem vagen Konzept der ‚sorgfältigen
Suche’ ernst zu
nehmen und konkrete Suchpläne zur Diskussion zu stellen,
statt weiter
hinter verschlossenen Türen zu verhandeln“. Außerdem
müsse
sichergestellt werden, dass die Verwertungsgesellschaften
keine
exklusiven Nutzungsrechte für die Vervielfältigung und
Zugänglichmachung
verwaister Werke einräumen dürfen: „Einen wertvollen Teil
unseres
kulturellen Erbes mühsam bergen und ihn dann gleich
wieder wegschließen
— das geht nicht an.“

RK
Die erbaermliche Blockierei wird von der Deutschen
Nationalbibliothek und ihrer Direktorin mitgetragen:

http://archiv.twoday.net/stories/6460982/

Es genuegt fuer die unfaehige Sachbearbeitung des
Bundesdatenschutzbeauftragten, wenn eine Behoerde
behauptet, sie habe zu einem Sachverhalt keine Unterlagen -
dann ist sie fein raus ...

Klaus Graf

-- 
http://www.inetbib.de




-- 
Prof. Dr. Rainer Kuhlen
Dep. Computer and Information Science
University of Konstanz, Germany
URL: www.kuhlen.name
Email: rainer.kuhlen@xxxxxxxxxxxxxxx

Head od the Board of ENCES (European Network for Copyright in support of 
Education and Science e.V.)- www.ences.eu

Project IUWIS (Infrastructure Copyright for Science and Education)
Humboldt University Berlin: www.iuwis.de

Speaker of the German Coalition for Action "Copyright in behalf of Science 
and Ecucation"-  http://www.urheberrechtsbuendnis.de/index.html.en

I am in Santa Barbara, CA, USA, till August 30th 2011
In case, you need to talk to me urgently, please use Skype: rainer.kuhlen
or US tel landline: 805-845-8023


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http://www.inetbib.de



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