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Re: [InetBib] Unglaublich: Historische Gymnasialbibliothek im Stadtarchiv Stralsund an Antiquar verkauft



super!

   

Am 06.11.2012 um 03:44 schrieb "Klaus Graf" 
<klaus.graf@xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx>:

Ich habe eine zusammenfassende Darstellung in Form eines
offenen Briefs an den Buergermeister von Wismar versucht:

http://archiv.twoday.net/stories/197336228/

Version ohne weiterfuehrende Links:

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Beyer,

ein schönes und erfolgreiches Bündnis hat Ihre
traditionsreiche Stadt Wismar mit der nicht weniger
traditionsreichen Hansestadt Stralsund geschmiedet. Die
Altstädte von Wismar und Stralsund zählen seit 2002 zum
UNESCO-Welterbe. Ich selbst war bei eigenen Besuchen
außerordentlich beeindruckt von der architektonischen
Hinterlassenschaft in beiden Städten. Doch Architektur ist
nicht das einzige kulturelle Erbe, das beide Städte
betreuen. In Archiven, Bibliotheken und Museen sind
unschätzbare Kulturgüter überliefert, ein Dokumentenerbe,
das zwar nicht in die entsprechende UNESCO-Liste
eingetragen ist, das aber aus meiner Sicht ebenso gepflegt
werden muss wie das jeweilige Stadtbild und die
Baudenkmale.

Doch im Augenblick würde ich mich an Ihrer Stelle in Grund
und Boden schämen, mit der Stadt Stadt Stralsund in einem
Boot zu sitzen. Die jetzt bekannt gewordenen Verkäufe aus
der Bibliothek des dortigen Stadtarchivs halte ich für
einen der größten Kulturgut-Skandale der letzten
Jahrzehnte. Archivare und Bibliothekare sind zu Recht
entsetzt und schockiert über einen Kulturfrevel
ohnegleichen, der mit dem Image einer Welterbe-Stadt
schlichtweg nicht zu vereinen ist.

In der frühen Neuzeit entstandene Bibliotheken sind nicht
einfach Büchersammlungen, aus der man nach Belieben Stücke
herauslösen kann, wenn diese aktuell wenig nachgefragt
werden und man Geld braucht. Über Bücher in
Adelsbibliotheken schrieb ich 2006, sie seien "Elemente
eines Netzwerks voller Querbezüge, das als beziehungsvolle
Gesamtheit weit mehr ist als die bloße Summe der
Einzelstücke. Ihre historische Bedeutung als Ensembles
entsteht durch Provenienz, durch Herkunft. Um die
Provenienzgeschichte zu 
rekonstruieren, muss man sorgsam Spuren sichern: das
Aussehen des Einbands, die Einträge früherer Besitzer,
Marginalien und andere Hinweise auf einstige Lektüre". Das
gilt genauso für die frühneuzeitlichen städtischen
Bibliotheken.

Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, dass in den
protestantischen Städten Ratsbibliotheken,
Kirchenbibliotheken und Schulbibliotheken seit dem 16.
Jahrhundert als Einheit, als Ganzes verstanden werden
können, als Bibliothek der urbanen "Societas christiana",
die nach Schwerpunkten auf drei Standorte verteilt war:
Fand man in der Ratsbibliothek eher juristische und
Verwaltungsschriften, so war in den Kirchenbibliotheken
naturgemäß die Theologie stark und in den Bibliotheken der
oftmals berühmten städtischen Lateinschulen die Philologie.
Zugleich waren aber alle drei Typen im Ansatz immer auch
universale Wissenssammlungen. Diese Büchersammlungen,
soweit sie - meist nur in Resten - auf uns gekommen sind,
sind nichts weniger als kostbare und einzigartige
Geschichtsquellen, denen seltene Aufschlüsse über die
geistige Kultur des frühneuzeitlichen Bürgertums entnommen
werden können. Sie dokumentieren die literarische
Produktion in den Städten, aber auch die Rezeption auswärts
gedruckter Werke und spiegeln insofern die Lese-Interessen
des gebildeten Bürgertums. Gelehrte und gebildete Bürger
hatten üblicherweise Zugang zu den Ratsbibliotheken, den
Kirchen- und Schulbibliotheken. Bücherschenkungen aus ihrem
Kreis waren für den Bestandsaufbau außerordentlich wichtig.

Es wäre eine gute Idee (wenngleich derzeit utopisch), die
gesammelten Bestände der bundesdeutschen historischen
Gymnasialbibliotheken, die aus den frühneuzeitlichen
Lateinschulbibliotheken hervorgegangen sind, für die
Eintragung im UNESCO-Dokumentenerbe anzumelden. Denn kein
anderes Land der Erde weist diesen - bislang so gut wie
nicht erschlossenen - Reichtum auf an historischen
Schulbibliotheken, die noch in den Schulen selbst betreut
werden. Es sind wahre Schatzkammern der Kultur- und
Bildungsgeschichte, in denen man neben grandiosen
Einzelstücken viel zur jeweiligen Schulgeschichte und zur
Geschichte der gelehrten Bildung in der frühen Neuzeit
findet. Geht man nach dem Bestand von Inkunabeln (also der
vor 1501 gedruckten BÜcher), so gibt es 2012 noch über 40
deutsche Schulbibliotheken, die über solche bibliophilen
Stücke verfügen. Diese sind freilich überwiegend im Westen
anzutreffen, denn in der DDR waren historische
Schulbibliotheken ebenso wie andere kleinere Bibliotheken
allzu oft das Opfer gewissenloser Dezimierungsaktionen, bei
denen gewachsene Sammlungen zerschlagen und als
Geschichtsquellen vernichtet wurden, indem man die Bestände
als unbrauchbar wegwarf, sie in größere Bibliotheken
eingliederte oder gegen Devisen in den Westen verkaufte.

Um so erfreulicher war es, dass die Bibliothek der
Stralsunder Lateinschule, in der frühen Neuzeit eine Schule
von hohem Rang, in der 1937 gegründeten Archivbibliothek,
die die Tradition der jahrhundertealten Stadtbibliothek
fortführte, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen
scheinbar sicheren Hort gefunden hatte. Im maßgeblichen
"Handbuch der historischen Buchbestände" wurde sie 1995 als
hochgeschätzter Sonderbestand von 2630 Titeln
vergleichsweise ausführlich charakterisiert. Die DDR hatte
die Stralsunder Gymnasialbibliothek unbeschadet
überstanden, doch gegen die geschichtsvergessene Barbarei
der derzeitigen Stadtverwaltung hatte sie keine Chance. Im
Sommer 2012 wurde sie - bis auf einen kleinen Restbestand -
an einen bayerischen Antiquar aus dem Raum Augsburg, der
befreundete bzw. familiär verbundene weitere Antiquariate
belieferte, zu einem geheimgehaltenen Betrag verscherbelt -
anders kann man diesen vandalischen Akt nicht nennen. 

Die Stralsunder Stadtverwaltung, die in der Bürgerschaft in
geheimer Sitzung im Juni 2012 den Verkauf absegnen ließ,
spielt den von mir aufgedeckten ungeheuerlichen Vorgang
herunter, sie will ihn offenkundig vertuschen und schreckt
auch vor dreisten Lügen nicht zurück.

Bei den verkauften Bänden handelt es sich nach Angaben von
Sprecher Peter Koslik überwiegend um unterrichtsbegleitende
Literatur für Schüler und Lehrer auf den Gebieten
Philologie und Theologie aus den vergangenen Jahrhunderten.
Ihre regionalgeschichtliche Bedeutung sei eher minimal.
Pomeranica, also Literatur mit Bezug zur historischen
Region Pommern, sei nicht verkauft worden. "Das würden wir
niemals machen. Das wäre eine Todsünde", sagte Koslik
weiter. (SVZ).

Für den Quellenwert der Gymnasialbibliothek als
kulturgeschichtliches Ensemble, der natürlich von den
Bestandsgruppen der Theologie und Philologie und
fremdsprachigen Büchern geprägt wurde, darf die
regionalgeschichtlich orientierte aktuelle Nachfrage keine
Rolle spielen. Die Stralsunder Archivbibliothek gehört zu
den großen vier Altbestandsbibliotheken des Landes
Mecklenburg-Vorpommern. Sie ist als ehemalige
gelehrt-wissenschaftliche Stadtbibliothek eine
Universalbibliothek und nicht nur eine Sammelstelle von
Regionalia. Wie sollte ein größeres Interesse an ihren
Schätzen entstehen, wenn man sie im Dornröschenschlaf vor
sich hindämmern ließ und sie ohne elektronischen Katalog
vom Netz der wissenschaftlichen Literaturversorgung
fernhielt?

Zu den Schätzen der Archivbibliothek gehörte die weitgehend
geschlossen erhaltene Gymnasialbibliothek, die nun als
Geschichtsquelle vernichtet wurde. Ihre Preisgabe an einen
privaten Händler und damit einhergehende Zerstreuung möchte
ich durchaus mit dem Abbruch eines hochbedeutenden
Backsteinbaus in einer Ihrer Welterbe-Städte vergleichen. 

Der vielleicht kostbarste Teil der Gymnasialbibliothek
dürfte wohl ebenfalls verloren sein, die Bibliothek des
Zacharias Orth, über die man im bereits erwähnten Handbuch
liest: "Eine besondere Zuwendung erhielt sie [die
Gymnasialbibliothek] im Jahre 1644 vom Magistrat der Stadt:
eine Sammlung von 112 Bdn philologischen, historischen,
philosophischen und theologischen Inhalts, die schon 1579
von den Erben des Stralsunder Poeten Zacharias Orthus (um
1530-1579) angekauft worden war. In seiner Bibliothek hatte
Orthus, der in Wittenberg und Greifswald Poesie und
Geschichte gelehrt hatte, sowohl die eigenen als auch die
Werke namhafter Zeitgenossen, wie Bugenhagens und seines
Freundes Melanchthon, vereint. Auch damals bedeutende
Dichterkollegen gehören dazu. Viele Bände tragen seinen
eigenhändigen Namenszug und auf dem Deckel die Buchstaben
ZOPL (" Zach. Orth. poeta laureatus")."

Die Angebote der Antiquariate bei Abebooks, im ZVAB und -
ja auch bei Ebay sind für den Kenner erschreckend, auch
wenn ich noch nicht auf ein Buch von Orth gestoßen bin. Man
findet ohne weiteres Stücke mit Unikatcharakter, etwa die
Widmungsexemplare des Stralsunder Lehrers und
Stadthistorikers Zober an seine Anstalt oder ein Dossier
lokalhistorischer Druckschriften über einen ihrer Rektoren.


Das Kulturerbe der Stadt Stralsund bei Ebay!

Aus der Zeit vor 1850 kann es keine "Dubletten"
(Doppelstücke) geben, legt man die maßgeblichen Standards
der Kulturerbe-Allianz zugrunde. Nicht wenige der aktuell
im Handel angebotenen Stralsunder Bücher weisen
handschriftliche Besonderheiten, wie Schenkungs- oder
Widmungseinträge, Randnotizen usw. auf, die nun
undokumentiert der lokalhistorischen wie der überregionalen
Forschung - mutmaßlich für immer - durch den Übergang in
private Hände entzogen sind. Die Zerstreuung einer solchen
historischen Sammlung ist nicht reversibel. Eine
Backsteinfassade kann man aber originalgetreu wieder
aufbauen.

In der Archivsatzung der Stadt Stralsund aus dem Jahr 2002
heißt es unmissverständlich: "Das Archiv- und
Bibliotheksgut ist Kulturgut und unveräußerlich." Wie das
erwähnte Handbuch der historischen Buchbestände beweist,
galt die Gymnasialbibliothek als integraler Bestandteil der
Archivbibliothek, auch wenn sie gesondert aufgestellt war
und nur in einem alten Bandkatalog katalogisiert war. Daher
ist die Argumentation der Stadt Stralsund, die
Archivsatzung habe keine Gültigkeit für die wertvolle
Schulbibliothek, eine reine Ausflucht. Namhafte
Bibliotheksjuristen teilen meine Einschätzung, dass die
Veräußerung rechtswidrig war und die Übereignung daher als
Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot daher nach § 134 BGB
nichtig. Die an den Händler übergebenen (und womöglich
weiterverkauften) Stücke stehen also nach wie vor im
Eigentum der Stadt Stralsund.

Die widerwärtige Plünderei der Archivbibliothek erfasste
aber nicht nur die Gymnasialbibliothek. Abgestoßen wurden
auch - in unbekanntem Umfang - wertvolle Stücke aus der
Stadtbibliothek, die man - mit engstirniger regionaler
Perspektive - als entbehrlich ansah. Sogar Bücher aus der
im 18. Jahrhundert der Stadt geschenkten Gräflich
Löwen'schen Sammlung, auf die man in Stralsund sonst doch
so stolz ist, erscheinen in den Angeboten der Antiquariate.
Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht um
unkatalogisierte Bücher, wenn man dieses Kriterium bei der
Bestimmung des unveräußerlichen Bestandes zugrundelegen
wollte.

Die Unveräußerlichkeit des Archivguts in den
Kommunalarchiven wurde auch im Archivgesetz des Landes
festgeschrieben. Man kann solche normativen Klauseln
getrost als Makulatur betrachten, wenn die Stadt Stralsund
mit ihrer eklatanten Verdrehung der Rechtslage durchkommt.

Es ist ein ungeheuerlicher Vorgang, dass sich eine Kommune
ratzfatz von einer jahrhundertealten bibliothekarischen
Tradition verabschiedet, ohne sich im mindesten um die
Rechtslage und die Interessenlage der regionalen und
überregionalen Altbestandsbibliotheken zu kümmern. Denn
externer Sachverstand aus dem Bibliotheks- oder
Archivbereich konnte im Vorfeld das Zerstörungswerk nicht
verhindern - weil niemand informiert war.

Jeder Kenner weiß, dass Archivbibliotheken oft wichtige
Ergänzungen zu den Pflichtexemplar- und
Regionalbibliotheken darstellen, da sie das lokale
Schrifttum in größerer Vollständigkeit dokumentieren. Es
ist eine glatte Lüge, dass man keine Pomeranica verkauft
habe. Unzählige höchst seltene Pommern-Drucke wurden in den
Handel gegeben, auch die so seltenen barocken
Gelegenheitsschriften, von denen einige in den
elektronischen Bibliographien und Verbundkatalogen gar
nicht nachweisbar sind. 

Bei Zisska kommt ein Stettiner Türkendruck aus dem Jahr
1537 unter den Hammer. Es ist das einzige bekannte Exemplar
aus dem Stadtarchiv Stralsund!

Glücklicherweise sind im deutschen Museumsbereich Verkäufe
ein Tabu. Ein wichtiges Argument gegen die insbesondere in
den USA weit verbreitete Deaccessioning-Mentalität ist der
Hinweis auf die Absichten der Schenker, die ihr Kulturgut
bewusst einer geschützten, dauerhaften Sammlung gestiftet
haben. Was würde Graf von Löwen oder der Stadthistoriker
Zober sagen, wenn sie von dem Stralsunder Vernichtungsakt
erführen? Nochmals ein Zitat aus dem "Handbuch":
"Besonderes bibliothekarisches Feingefühl bewies der Rektor
Christian Heinrich Groskurd (1747-1806), der von jedem
Schüler bei dessen Abschied wünschte, daß er der Bibliothek
ein Buch schenke. Unter seiner Leitung wurde die
Gymnasialbibliothek auch für außenstehende Liebhaber der
Literatur geöffnet und entwickelte sich zu einem
kulturellen städtischen Treffpunkt." Etliche
handschriftliche Einträge Groskurds sind in den
Beschreibungen der Antiquariate angezeigt (aber nicht
wiedergegeben). 

Wie kann man Bürgerinnen und Bürger motivieren,
kulturgutverwahrende Institutionen zu bedenken, wenn der
kommunale Träger sich kaltschnäuzig über jede moralische
Verpflichtung, den Ewigkeitscharakter des Prinzips
"Stiftung" zu respektieren, hinwegsetzt? 

Schon das glimpflich ausgegangene Karlsruher
Kulturgut-Debakel von 2006 hat deutlich gemacht, dass wir
wirksame Sicherungen für Kulturgüter der öffentlichen Hand
in Archiven, Bibliotheken und Museen brauchen. Die auf Bau-
und Bodendenkmäler konzentrierte amtliche Denkmalpflege
kümmert sich leider nicht um Sammlungen wie die Stralsunder
Archivbibliothek.

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, ich bitte Sie:

- Distanzieren Sie sich von dem einer Welterbe-Stadt
unwürdigen Vorgehen der Stadt Stralsund und setzen Sie
jegliche Zusammenarbeit bis zur umfassenden Klärung der
Angelegenheit aus!

- Sorgen Sie dafür, dass Ihre eigene Ratsbibliothek im
Stadtarchiv mit elektronischem Katalog auch der Altbestände
in das Netz der wissenschaftlichen Bibliotheken einbezogen
wird, damit das Bewusstsein für ihren besonderen Wert
zunimmt und sie vor einem vergleichbaren kulturellen
Vernichtungsfeldzug wie in Stralsund schützt. Wie wichtig
Archive (und auch Archivbibliotheken) sind, hat der Kölner
Archiveinsturz wohl hinreichend demonstriert.

- Setzen Sie sich dafür ein, dass die Kommunen in
Mecklenburg-Vorpommern das ihnen anvertraute Kulturgut
treuhänderisch für die Öffentlichkeit dauerhaft bewahren
und nicht kurzsichtig zum Stopfen von Haushaltslöchern
verwenden! 

Mit freundlichen Grüßen
gez. Dr. Klaus Graf

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