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Re: [InetBib] Ausschreibung dbv-Kommission Kundenorientierte Services und Vision für deutsche Bibliotheken u. Informationseinr



Lieber Herr Jobmann, liebe Liste,

dass die Benennung der Kommission ein Defizit unserer Fachdiskussion aufdeckt 
ist auch 
aus meiner Sicht offensichtlich. Dies ist allerdings nicht unbedingt die Schuld 
derjenigen im 
dbv, die diese Benennung vorgenommen haben. Der Begriff der Kundenorientierung 
und 
auch die Bezeichnung der Bibliotheksbesucher als 'Kunden' sind aus meiner Sicht 
auf jeden 
Fall kritisch zu betrachten. Einmal wegen der ideologischen Komponente, die in 
diesen 
Begriffen bzw. Konzepten steckt, zum anderen weil die Erwartungshaltung von 
Bürgerinnen 
und Bürgern, die so bezeichnet (und damit auch in eine Schublade gesteckt 
werden) nicht 
mehr unbedingt eine positive ist. Sie haben das Beispiel Jobcenter genannt, 
ergänzend 
könnte man noch Telekommunikationsunternehmen (Kundenhotline) und Banken 
(Kundenberatung) nennen. Assoziiert ist hiermit nicht der mündige Bürger 
sondern der 
entmündigte Konsument. Das steigende Misstrauen gegenüber dem Begriff und 
Konzept 
'Kunde' ist auch im Marketing-Bereisch schon bemerkt worden. Es stellt sich die 
Frage, mit 
wem sich Bibliotheken aus Sicht ihrer Klientel gemein machen, wenn sie diese 
ungefragt als 
'Kunden' bezeichnen. Andererseits hat Frau Kustos zu Recht darauf hingewiesen, 
dass 
gerade die Öffentlichen Bibliotheken dem NPM und seiner Terminologie nicht ganz 
freiwillig 
ausgeliefert sind. 
Die Erkenntnis, dass wir Bibliothekarinnen und Bibliothekare uns viel zu wenig 
unserer Rolle 
als gesellschaftliche Akteure bewusst sind und sie nicht adäquat ausfüllen ist 
ja in letzter Zeit 
auch hier schon angesprochen worden, ich halte jeden Beitrag zu dieser 
Diskussion für 
spannend und wichtig. Was die Situation an den Hochschulen angeht, so 
thematisiere ich die 
Frage, wie wir unsere Besucherinnen und Besucher bezeichnen, in jeder meiner 
Lehrveranstaltungen an der Humboldt-Universität und freue mich immer über die 
Diskussion, 
die dann beginnt. Letztendlich wird hier dann viel vom individuellen und 
institutionellen 
Selbstverständnis deutlich. Der Begriff Benutzer/in scheint mir übrigens 
veraltet und aus 
meiner Sicht spricht auch nichts gegen eine Differenzierung von verschiedenen 
Nutzergruppen; vielleicht gibt es ja den klassischen 'Kunden', vielleicht aber 
auch 'Nutzer' 
und 'Gäste' oder sogar noch den ein oder anderen 'Leser' in Bibliotheken ;-) 
'Den' 
gebräuchlichen Terminus der Fachcommunity gibt es aber, hier würde ich Herrn 
Umstätter 
widersprechen, nicht (mehr).
Ich bin gespannt, ob die neue Kommission diese Diskussion aufnimmt und 
vielleicht auch 
Impulse dazu setzt. 

Viele Grüße,

Olaf Eigenbrodt


Am 9 Jul 2013 um 23:59 hat Peter Jobmann geschrieben:

Von:                    "Peter Jobmann" <peter.jobmann@xxxxxxxxxxx>
An:                     <inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx>
Datum:          Tue, 9 Jul 2013 23:59:53 +0200
Betreff:                [InetBib] Ausschreibung dbv-Kommission Kundenorien
        tierte Services und Vision für deutsche Bibliothe
        ken u. Informationseinrichtungen
Antwort an:             Internet in Bibliotheken <inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx>
        <mailto:inetbib-request@xxxxxxxxxxxxxxxxxx?subject=unsubscribe>
        <mailto:inetbib-request@xxxxxxxxxxxxxxxxxx?subject=subscribe>

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

 

und täglich grüßt das Kundengedöns.

 

Die beiden Emails, die einer Lehrbeauftragten der HAW Hamburg und
jene von
Frau Schleihagen im Namen des dbv, sind der Tropfen der das Fass auf
dem
I-Tüpfelchen der Ahnungslosigkeit zum Überlaufen bringt.

 

Nach Jahren des Versuchs mittels eines oktroyierten Leitbildes
("Code of
ethics") den Kundenbegriff als soziale Erwartungshaltung den
Bibliotheksbesucherinnen und -besuchern und den Kolleginnen und
Kollegen in
den Bibliotheken überzustülpen, gründen Sie nun eine dbv-Kommission
für
kundenorientierte Services. Eine Manifestation fachlicher
Ahnungslosigkeit
und zugleich ein Offenbarungseid der verlorengegangenen
Orientierung
bezüglich der eigenen Rolle in der Gesellschaft. Auf welchen
Kundenbegriff
berufen Sie sich denn? In der bibliothekswissenschaftlichen
Literatur werden
Sie dazu ja quasi nichts ernstzunehmendes finden. Es sei denn, wir
nehmen
z.B. die knapp 30 Zeilen der Definition auf dem Bibliotheksportal
ernst oder
jene zwei Seiten aus "Erfolgreiches Management von Bibl. usw" oder
andere
ähnlich oberflächliche Texte. 

Je länger man sich mit diesem Begriff beschäftigt, desto mehr
erscheint
folgende Möglichkeit für die Nutzung plausibel: der Begriff klingt
so schön.


Oder anders formuliert - für jene die sich gerne mittels ihrer
Sprache von
der Welt der Nichtwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen
abgrenzen
möchten: wegen der kommunikativen Attraktivität des Kundenbegriffs.

 

Managementlehre, Konsumforschung und Marketing bilden das Rückgrat
des
bibliothekswissenschaftlichen Denkens. Gleichsam steckt in diesen
drei
Punkten auch das ganze traurige Bibliotheksbild: das Verständnis
der
Bibliotheksbesucherinnen und -besucher als Konsumentinnen und
Konsumenten.
Die armseligen Instrumente für Fantasielose (z.B.: BIX oder
Bibliothek mit
Qualität und Siegel), in denen fast ausschließlich Quantität steckt
und die
wir der Bibliotheksumwelt konsequent als Qualität anbieten, sind ein
gutes
Indiz hierfür. 

 

Die Soziologie des Kundenbegriffes hingegen interessiert kaum. Wie
verändern
wir die Einrichtung mit dem Verständnis der Bibliotheksbesucherinnen
und
-besucher als Kundinnen und Kunden? Die auch in der
bibliothekswissenschaftlichen Literatur durchaus belegbare
Komplementärrolle
Bibliothekar / Leserin (und andersherum) wurde bspw. durch nichts
ersetzt.
Die Funktionszuschreibung der Bibliothek in der Gesellschaft wurde
quasi
einfach in die Tonne getreten und mit einem Begriff ersetzt, der
keine Rolle
in der Gesellschaft beschreibt, sondern eine Rolle auf dem Markt -
dem
Kundenbegriff. 

Ein weiterer Punkt: das gesetzlich zugesicherte Anrecht auf z.B.
eine
Informationsdienstleistung (Bibliotheksgesetz) wird gerade vom dbv
beständig
gefordert. Damit schließen Sie jedoch gerade einen Markt aus und
definieren
eine Art Vertragsbeziehung. Daraus lässt sich ein schlichter
semantischer
Missbrauch ableiten, ähnlich dem in den sogenannten
Arbeitsagenturen. Auch
dort möchte man nichts erwerben. Der Tauschwert für die zu
erbringende
Dienstleistung z.B. Arbeitslosengeld ist bereits erbracht. Selbiges
fordern
Sie für Bibliotheken und ignorieren mittels der Nutzung des
Kundenbegriffs
jegliche Konsequenz.

 

Diese wenigen Sätze bitte ich als kürzeste Kurzform zu verstehen.
Zahlreiche
Publikationen zum Kundenbegriff existieren außerhalb des
bibliothekarischen
Mantras (Managementlehre, Konsumforschung und Marketing). Nirgendwo
ist eine
ähnliche Vereinfachungswut nachzuvollziehen wie in unserer
Fachwissenschaft.


 

Aber verstehen Sie mich nicht falsch, gerne bewerbe ich mich um
die
Mitarbeit in der Kommission. Sehr gerne helfe ich dabei aufzuzeigen,
warum
diese Kommission Zeit-, Geld- und Hirnverschwendung darstellt.

 

Nun noch ein paar Worte zu den Visionen für deutsche Bibliotheken
u.
Informationseinrichtungen:

 

Ein Blick in das Modulhandbuch des Bibliotheksstudiengangs der HAW
zeigt
eines deutlich: Studierende werden keinesfalls befähigt den
Kundenbegriff zu
verstehen und zu hinterfragen. Gleichwohl taucht dieser Begriff
durchgehend
in diesem Studiengang auf. Studierende sprechen wie
selbstverständlich vom
Bibliothekskunden und der Bibliothekskundin. Dieser Zustand ist aus
meiner
Sicht nicht nur fachlich fragwürdig, sondern vor allem moralisch.
Man kann
hier nicht von der Anleitung zur wissenschaftlichen Arbeit sprechen,
man
muss definitiv vom Versuch der Erziehung zu einem bestimmten
persönlichen
Rollenverständnis in der Gesellschaft sprechen. 

 

Insofern verstehen Sie meinen Beitrag gerne als meinen Teil eines
Dialoges,
der Sie dazu auffordert grundlegende fachliche und moralische
Grenzen
einzuhalten und die Zukunftsgedanken auf ein solides Fundament zu
stellen,
statt sich in einem oberflächlichen und für die Zukunft des
Berufsstandes
gefährlichen Geschwurbel zu verfangen.

 

Beste Grüße

 

Peter Jobmann 

 

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