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Re: [InetBib] Schlechte Bücher? Publikationsmöglichkeiten im 21. Jahrhundert als Herausforderung für Bibliotheken



Sehr geehrter Herr Frank,

die unterschiedlichen Reglungen bei der Veröffentlichung von „Qualifikationsarbeiten“ muss man historisch sehen. Bachelor-, Diplom-, Magister- oder Master-Arbeiten galten bislang (als das Publizieren noch teuer und aufwendig war) nicht als publikationsfähige Arbeiten, da sie nur zeigen sollten, dass die Autoren damit nachweisen, dass sie auf dem Stand des Wissen zur Abgabezeit sind. Sie mussten also keine neuen Thesen aufstellen und verteidigen, wie es Aufgabe bei Dissertationen ist. Das sie es trotzdem oft taten, ist eine andere Frage. Sinnvollerweise waren diese Arbeiten auch oft nur Überprüfungen von bereits publizierten Erkenntnissen, im Sinne der Selbstkontrolle der Wissenschaft. Um die Qualität der Dissertationen zu sichern, mussten diese erst durch die Promotion bzw. den Prüfungskommissionsvorsitzeden frei gegeben werden. Waren die Thesen nicht zu verteidigen, kam es auch zu keiner Veröffentlichung. Es wurde möglichst streng auf Schöpfungshöhe geachtet. Nur am Rande sei noch angemerkt, dass bei Habilitationen die Autoren meist schon so viel Veröffentlichungen hatten bzw. haben, dass die Habilitation meist ein Resümee aus diesem Fundus an publizierter wissenschaftlicher Erfahrung (inklusive Dissertation) ist. Trotzdem wurde in der Habilitation noch einmal darauf geprüft, ob der Autor geeignet ist die jeweilige Lehrmeinung didaktisch und state-of-the-art zu vertreten.

Nun ist die alte Form der Publikationsbegrenzung auf Papier inzwischen eher anachronistisch, da das heutige Publikationswesen dazu geführt hat, dass z.B. Autoren von Bachelor-Arbeiten rascher und einfacher Urheber und Verwertungsrechtebesitzer werden können (wie auch jeder Laie, der sein mediales Elaborat ins Netz stellt) als Promovenden. Auch im wissenschaftlichen Publikationswesen ist die sog. „Kleine Münze“ des Urheberrechts immer kleiner und das Recht auf Publikation immer demokratischer geworden. Es geht immer weniger um wirklich neue Erkenntnisse und Schöpfungshöhe, aber immer öfter um die Miteinflussnahme auf das Public-Domain-Wissen in der Big Science. Schon der Vortrag von Dr. Graf, mit der Verbreitung in Inetbib, ist dafür ein schöner Beleg. Insbesondere durch seinen Verweis (bzw. die Frage) auf den „Gemeinschaftsblog Archivalia – wer war da schonmal drauf?“

Welche neuen Erkenntnisse in unserer Gesellschaft wirklich virulent werden, zeigt sich nicht mehr dadurch, wer noch zu Wort kommen darf, wie früher, sondern wer sich in der schriftlichen Diskussion mit seiner Argumentation so durchsetzen kann, so dass er immer mehr Autoren findet, die bereit sind für das neue Wissen die Verantwortung mit zu übernehmen, denn jedes Wissen bringt für die Menschheit neue Verantwortung, was man biblisch als Erbsünde bezeichnet ;-) Schon die Vervielfältigung und Verbreitung einer Information bedeutet bekanntlich eine solche Verantwortungsübernahme durch die Verlage.

Neben der Flut an Einflussnahme auf die Meinungen in unserer Gesellschaft (insbesondere dadurch, dass immer öfter die Sender, und nicht die Empfänger, die Informationsverbreitung bezahlen) gibt es auch eine zunehmende Geheimhaltung, die ja auch dazu führen kann, dass die Publikationen von immer mehr neuen Erkenntnissen, wie Sie Herr Frank richtig schreiben, nicht publiziert werden, weil die Autoren es nicht erlauben. Sie nehmen aber damit in Kauf, nicht als Urheber in die Geschichte eingehen zu können, denn man kann geistiges Eigentum nur erwerben, wenn man es der Gesellschaft allgemein zur Verfügung stellt (http://libreas.eu/ausgabe18/texte/01umstaetter.htm).

So lange also viele Prüfungsarbeiten, wie bisher, geheim gehalten werden, können ihre Themen also immer wieder neu vergeben werden, ohne dass jemand etwas von den Ergebnissen erfährt, und die Gutachter bekommen ein Wissen, das nur sie haben ;-) Ich habe aber auch schon erlebt, dass Studierende so von einer Arbeit Kenntnis erhielten, die ich nicht kennen konnte, aber die die gleiche Thematik hatte, die ich vergab. Das ist die wahre Crux die Herr Graf anspricht. Spannend wird es, wenn ein Student Kenntnis von einer mit sehr gut beurteilten Arbeit erhält, sie an einer andere Hochschule als Prüfungsarbeit einricht und ein ungenügend bekommt, obwohl bzw. weil die Gutachter gar nicht wissen, dass die Arbeit schon einmal beurteilt worden war. Das wird zwar sicher nicht oft auftreten, weil der Student ja zugeben müsste, dass er ein Plagiat betrieben hat, aber es soll ja Journalisten geben, die sich durch so böse Tests einen Namen machen. (Ich hatte dieses Vergnügen in meiner Schulzeit, als ich mal aus Zeitmangel, in einem Hausaufsatz aus einem Lehruch wörtlich abgeschrieben hatte, woraus meine Physiklehrerin erkannte, dass der Autor des Lehrbuchs (R. W. Pohl), einen deutlichen Mangel an physikalischer Begabung zeigt ;-) Das Problem ist also nicht neu, es wird aber durch copy & paste immer gravierender, denn die meisten Menschen wissen doch gar nicht mehr, was sie in ihren Texten alles zusammen kopiert haben, weil sie die Zitate in ihrer Textverarbeitung sammeln und nicht in Volltextdatenbanken, mit Zitat und Quelle. Das ging sicher nicht nur Herrn Guttenberg so, und bekanntermaßen kamen seine Kritiker auch nicht zu einem "Summa cum laude".

MfG
Walther Umstätter


Am 2013-09-07 14:44, schrieb "Michael Frank":
Sehr geehrter Herr Graf,
Sehr geehrte Leserinnen und Leser des Blogs,

ich moechte kurz einige Fakten und Gesichtspunkte zusammentragen, die
meiner Sicht als Verantwortlicher an der HTWK Leipzig, Fakultaet
Informatik, Mathematik und Naturwissenschaften, entstammen. Ihre
Ausfuehrungen enthalten die eine Seite der Forderungen von
OEffentlichkeiten, es gibt noch einige andere nicht so offensichtliche
Aspekte, die Hochschulen beeinflussen koennten.

Zum einen ist es das Urheberrecht. Die Studentin und der Student besitzt
grundsaetzlich das Urheberrecht an ihrer/seiner Graduierungsarbeit, und
nicht die Bildungseinrichtung. Er/sie darf ohne Angabe von Gruenden z.B.
sein/ihr Werk mit einem Sperrvermerk belegen, der fuer die Hochschule
rechtsverbindlich ist. Dann kommen die Belegexemplare davon bei uns bis
zur Vernichtung in den Panzerschrank. Und die Gutachter sind durch
gesetzliche Vorschriften zur Wahrung des Dienstgeheimnisses gebunden.
Die Hochschulgesetze der Laender ermaechtigen meines Wissens nicht,
zwangsweise die UEbergabe einer Kopie der Graduierungsarbeiten an
Bibliotheken zu erzwingen. Dasselbe gilt fuer digitale
Veroeffentlichungen. Und Pruefungsunterlagen muessen einerseits
aufbewahrt werden, gewisse Fristen, andererseits duerfen Sie auch
spaeter nicht veroeffentlicht werden.
Persoenlich bin ich fuer die Wahrung der Buergerrechte.
Und die Partnerbetriebe, die wir haben, haben bisher keine Einsicht in
unsere Graduierungsarbeiten verlangt - seltsam. Auch
Nichtpartnerbetriebe nicht.

Bei Promotionen liegt der Fall etwas anders, da gibt es wenige Gesetze
dazu. Die Promotionsordnungen werden sich von den Fakultaeten und
Senaten der Universitaeten immer noch in freier Tradition gegeben, und
der Staat verzichtet auf eine vorschreibende Rechtsaufsicht. (Zumindest
ist mir kein staatlicher Einspruch je begegnet. Maximal die Justitiare
der Universitaeten und die Selbstzensur der Professoren als
Personengruppe verhindern Unzeitgemaesses. Weniges steht im
Hochschulgesetz des Bundeslandes. In den Gremien haben
Professoren meist die einfache Mehrheit.) Deshalb kann dort auch
drinstehen, dass nur die Abgabe von Pflichtexemplaren binnen X Wochen
nach der Verteidigung zum Erhalt der Doktorurkunde und zum Fuehren des
Doktortitels berechtigt, sonst wird er versagt. (Von den Kosten
schweigen wir.)
Frage: Sollen wir das auch bei Bachelor- und Masterarbeiten so machen?
Der Unterschied bei den Finanzaufwendungen ist z.B., das nur eine
Minderheit der Studierenden BAFoeG bekommt und etwa 30 Prozent der
Studierenden bei uns nur studieren koennen, weil sie nebenher arbeiten
gehen. Im Masterstadium steigt das auf ueber 70 Prozent im
Abschlussjahr.
Ich persoenlich bin dagegen, die Graduierung nochmals vom Geldbeutel
abhaengig zu machen.

Dann kommt noch der Druck der Gesellschaft dazu. Die geburtenschwachen
Jahrgaenge (zumindest im "Osten") fuehren dazu, dass die
Zulassungsbedingungen zum Studium immer mehr gelockert werden (teilweise durchaus demokratisch). Natuerlich sinkt die Qualitaet der BewerberInnen
ab, ein Jahrgang 1. Semester Informatik Bachelor hatte z.B. den
Zugangsdurchschnitt 3,2 (das Dach liegt bei 4,0). Weiterhin, das neue
Saechsische Hochschulfreiheitsgesetz sieht z.B. das Schliessen von
Zielvereinbarungen des SMWK mit den Hochschulen vor, in denen bei
Androhung einer finanziellen Bestrafung gefordert werden soll, dass ein
gewisser Ratio von Immatrikulierten zu Absolventen eingehalten werden
soll (und bei Strafe des Untergangs dann auch eingehalten werden muss).
Das treibt bei uns erste Blueten. So wird versucht, Mathematiklehrenden
Pruefungen zu entziehen, in harten Ingenieurwissenschaften. (Ich
persoenlich
erwarte in Zukunft mehr "einstuerzende Neubauten".)

Um nicht missverstanden zu werden - an der HTWK heisst Dienst als
HochschullehrerIn gewoehnlich, 12 Stunden Arbeit am Tag und Opferung
eines Tages des Wochenendes fuer Arbeit. "Bequem" ist hier keiner, sonst
sagen ihm/ihr die Studierenden schon Bescheid, ggf. ueber die Gremien.
Und es ist sehr kreativer Dienst, auch didaktisch. Das
Betreuungsverhaeltnis liegt bei 1 zu 30 bis 1 zu 50. Studienrichtungen
mit schlechtem Schluessel muessen sich anhoeren, dass ihr weiteres
Betreiben unoekonomisch sei.

Insofern moechte ich den Ball einmal wieder in die Luft werfen und "die
Bibliotheken" fragen, ob sie nicht an den Fakultaeten um die
UEbertragung der Rechte an Graduierungsarbeiten werben, zumindest aber
ueber ein Einstellungsrecht bei ihnen informieren wollen. Und auch das
Bibliothekswesen, ja jede Bibliothek, koennte einen Verlag a la VDM
"gruenden" (muss sie ja gar nicht, Rechteuebertragung reicht,
gebuehrenpflichtige Fernleihe fuer Kopien deckt die Kosten), der
Graduierungsarbeiten 1-zu-1 vom Absolventen zum Druck annimmt.
Ob die Verlage sich nach Noten, Bewertungen, Gutachten erkundigen, sind
gute Fragen. Ich habe noch von keiner Anfrage an unsere Fakultaet
diesbezueglich gehoert, Auskuenfte wuerden aber auch unter den
Datenschutz
fallen. Man muesste es im Einzelfall mit Manuskripten einmal selbst
per Einreichung in Verlagen testen.

Also: Bibliotheken koennten durch Werbung und Einholung von Rechten
eine neue Zuverdienstquelle im Bereich der Graduierungsarbeiten unter
der Promotionsstufe erschliessen. Oder?

Die Betriebe wuerden in ihre Praktikumsvertraege dann aber auch
aufnehmen, dass Geheimhaltung pauschal Pflicht wird, was bei uns
80 Prozent etwa der Arbeiten betreffen wuerde.
Und unsere Hochschulbibliothek sammelt meines Wissens bereits
Graduierungsarbeiten und laesst sich die Rechte ueberschreiben, und
zwar von den AutorInnen.

Andererseits, nach der Causa "Gutenberg" werden immer mehr Studierende
von ihrem Recht auf Sperrklausel Gebrauch machen. Wer laesst sich im
Leben schon gern boese ueberraschen. Das wuerde ja auch ihre/seine
Kinder
dann oekonomisch betreffen. Bisher sind es nur vertraglich begruendete
Faelle, in denen es Sperrklauseln bei uns gibt, also ist Ehrlichkeit der
AutorInnen vorhanden. Und wir verlangen die Arbeit als PDF-Datei.
(Ketzerisch koennte ich fragen: Haben eigentlich alle BibliothekarInnen
hier im Blog ihre Graduierungsarbeit veroeffentlicht? Wie viel Prozent?
Meine Diplomarbeit ist inhaltlich in einer wissenschaftlichen
Zeitschrift
nachzulesen.)

Mit dieser versoehnlichen Note moechte ich schliessen und bitte um
Nachsicht, wenn ich mit Ihnen, Herr Graf, nicht voll uebereinkommen
kann,
und wenn ich nicht alle guten Ideen Ihres Vortrags hier ausreichend
wuerdigen konnte.

Schoenes Wochenende und gute Erholung. Ich muss jetzt vier Manuskripte
von Graduierungsarbeiten schaffen, ueber 250 Seiten. Inhaltlich, nicht
nur lesetechnisch.

Mit freundlichen Gruessen
Michael Frank.

Studiendekan Medieninformatik, und ab 07.10.2013 auch
Bibliotheksinformatik
zusammen mit den KollegInnen vom Studiengang "Bibliotheks- und
Informationswissenschaften" natuerlich - ein echtes Kooperationsprojekt.


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Klaus Graf <klaus.graf@xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx> schrieb :

Da mein Vortrag auf der 34. Tagung der AG
sportwissenschaftlicher Bibliotheken am 4.9.2013 hier des
öfteren diskutierte Themen betrifft, dokumentiere ich ihn
im Volltext.

Klaus Graf

„...

Sorry, um die Einreichungsgrenze von 35 Kilobyte einhalten zu koennen,
muss ich fuer den eigentlichen Betrag auf den Original-Blog-Eintrag
verweisen.
M.F.


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