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Re: [InetBib] Schlechte Bücher? Publikationsmöglichkeiten im 21. Jahrhundert als Herausforderung für Bibliotheken



Am 2013-09-10 15:44, schrieb Eberhardt, Joachim:
Hallo Herr Umstätter,

zwei Thesen in Ihrer Mail habe ich vielleicht nicht richtig verstanden:

3.      Die Halbwertszeit von 5 Jahren gilt nicht nur für die Informatik,
sondern sowohl für die wissenschaftliche Literatur, als auch
beispielsweise für die Belletristik, wie ich mal feststellen musste.

Was meinen Sie damit, dass auch die Belletristik eine solche
Halbwertszeit habe? Dass es 5 Jahre nach Erscheinen nicht mehr lohnt,
die Hälfte der erschienenen literarischen Werke in die Hand zu nehmen?
Oder meinen Sie etwas, das mehr messbar ist und weniger vom Geschmack
abhängt, z.B. dass die Hälfte der literarischen Werke fünf Jahre nach
Erscheinen faktisch nicht mehr in die Hand genommen wird?

Ich meine damit, dass auch in den Öffentlichen Bibliotheken die Belletristik, der letzten 5 Jahre so oft ausgeliehen wird, wie alle früher erschienen Werke,
die sich in der Bibliothek befinden.
Nur wenige Citation Classics haben eine Halbwertszeit von etwa 20 Jahren. E. Garfield hat die Citation Classics und die Most Cited Articles synonym verwendet, weil sie ja auch beide besonders oft zitiert werden. Es gibt aber gerade bei den Most Cited Articles viele, die nur besonders kurze Zeit viel zitiert werden, weil sie danach so bekannt sind, dass sie der Uncitedness 3 anheim fallen.

Ich
warne auch immer dringend davor anzunehmen, dass die Halbwertszeit in
den Geisteswissenschaften höher liegt, weil es bedeuten würde, dass die
Erwerbungsetats dort gekürzt werden könnten.

Ich kann da keinen notwendigen Zusammenhang erkennen.

Wenn die bereits vorhandene Literatur kaum veralten würde, wie manche Philosophen behaupten,
müsste jede Generation immer nur das Selbe lesen, und kaum etwas neues,
was ja eindeutig nicht der Fall ist.


Die Erwerbungsetats von der angenommenen "Halbwertszeit des Wissens"
abhängig zu machen würde doch nur sinnvoll sein, wenn die Wissensmenge
konstant bleibt, und daher hinzukommendes Wissen altes ersetzt. (D.h.
ich nehme an, dass "Wissen veraltet" meint: "ist kein Wissen mehr").
Dann bedeutet: längere Halbwertszeit, also weniger Wissenszuwachs,
also weniger Geld.

Ich befürchte,Sie haben mich in einem Punkt falsch verstanden.
Nach meiner Einschätzung wächst und veraltet Wissen sehr viel langsamer (möglicherweise linear, weil wir auch sehr oft nur vorhandenes verfeinern) als die Obsoleszenz der Information.
Darum unterscheide ich auch (im Gegensatz zu so vielen
Informationswissenschaftlern) möglichst genau zwischen unbegründeter Information und begründeter Information (Wissen), die genau genommen eine apriori Redundanz ist, weil es sich um Nachrichten handelt, die ich als Empfänger aus meinem vorhandenen Wissen bereits richtig
voraussagen kann.)

In der Biologie unterscheidet man schon sehr lange zwei Arten von Wachstum. Das Größenwachstum und das Differenzierungswachstum. Beides gibt es in der
Wissenschaft auch. Einerseits völlig neue Erkenntnisse und andererseits
Verfeinerungen, Relativierungen oder Falsifizierungen des bereits bekannten Wissens. Im Prinzip ist beim heutigen Alter der Wissenschaft der Anteil an Differenzierung und Relativierung (Falsifizierung im Sinne Poppers) der weitaus größere Teil. Ich glaube weniger, dass es bei den Natur- bzw. Geisteswissenschaften hier große Unterschiede gibt, da sie sich beide stark beeinflussen, wenn ich beispielsweise an die Philosophen denke, die mit Problemen wie Freier Wille (Neurologie),
Abtreibung (ab wann ist Leben menschliches Leben), an die Historiker
(DNS-Identifikation, Radionuklide) etc. denke. Die Interdisziplinarität,
wie sie sich in Bradford's Law of Scattering zeigt, ist im Prinzip in allen
Fächern sehr hochund ähnlich.

Dem würde ich entgegenhalten, dass in den Geisteswissenschaften viele
neu hinzukommende Erkenntnisse eben nicht alte ersetzen, sondern neben
diese treten. Dass also der Wissensfortschritt in den
Geisteswissenschaften mit dem Ersetz-Modell nicht gut beschrieben ist.
Dass also die Halbwertszeit von geisteswissenschaftlichem Wissen
länger ist. (Wenn man sich überhaupt der Metapher Halbwertszeit
bedienen muss.) Dass also man trotzdem mit guten Gründen
gleichbleibende Etatansätze fordern kann.

Das hat ja schon etliche Menschen gestört, die Halbwertszeit "aus der Physik" in der Szienntometrie zu verwenden. Es ist aber beeindruckend wie gut die Verdopplungsrate der Literatur und die e-Funktion der Halbwertszeit das literarische Geschehen beschreibt. Eigentlich ist es ja auch nur eine typische Abkling- bzw. Verdopplungskurve.


J. Eberhardt (Detmold)

MfG
Walther Umstätter

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