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[InetBib] Offener Brief an Prof. Steinhauer



Lieber Herr Steinhauer,

der Landtag hat die Chance verschenkt, bei der Anhörung zur
Evaluierung des NRW-Archivgesetzes am 28. August 2014

http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_I/I.1/Tagesordnungen/WP16/800/E16-829.jsp

Stimmen aus dem Umfeld der gegen den Verkauf von Archivgut
gerichteten Petition

https://www.openpetition.de/petition/online/kein-verkauf-von-kommunalem-archivgut-in-nrw
(derzeit 1771 Unterstützer)

oder auch nur Vertreter der mitbetroffenen
Universitätsarchive als Sachverständige einzuladen. Der
Sprecher unserer Arbeitsgemeinschaft der
NRW-Universitätsarchive, Herr Freitäger, hat bei seiner
Unterschrift unter die Petition zu Protokoll gegeben, dass
seine Eingabe an das federführende Ministerium noch nicht
einmal einer Antwort gewürdigt wurde. 

Ich darf Sie bitten, dringend dafür zu plädieren, die im
deutschen Archivrecht singuläre Vorschrift, wonach
kommunales und Archivgut der unter der Aufsicht des Landes
stehenden Körperschaften (also vor allem der Universitäten)
veräußert werden darf, ersatzlos zu streichen.

Ich darf zur Begründung auf die Begründung der Petition und
meine eigene Stellungnahme von 2009 verweisen:

http://archiv.twoday.net/stories/6070626/

Ergänzend dazu:

Der von den Archivaren festzustellende bleibende Wert von
Unterlagen entfällt nicht dadurch, dass eine Kommune in
Zeiten klammer Kassen Archivgut verkaufen möchte. Ich darf
Sie an die Causa Stralsund erinnern. Glücklicherweise
konnte dort die Entscheidung, eine historische
Gymnasialbibliothek zu veräußern, rückgängig gemacht
werden.

Auch die Kommunalarchivare selbst sind  - anders als ein
Teil der kommunalen Spitzenverbände - gegen die
Veräußerungsmöglichkeit. Nach herrschender
archivrechtlicher Ansicht impliziert die gesetzliche
Bewertungskompetenz der Archivare eine Weisungsfreiheit,
siehe etwa mit Bezug auf Manegold

http://archiv.twoday.net/stories/2699909/

Die amtliche Begründung sagt zu § 2 Abs. 6 Archivgesetz NRW

http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD14-10028.pdf

"Darüber hinaus wird klargestellt, dass die
Entscheidungsbefugnis
über die Archivgutbildung allein unter fachlichen
Gesichtspunkten zu treffen ist und daher ausschließlich
beim zuständigen Archiv liegt." Nicht beim Archivträger! Es
besteht also klar ein Wertungswiderspruch zwischen der
Entscheidung des Gesetzgebers, die Bewertungskompetenz -
weisungsfrei - in die Hände des Fachpersonals zu geben, und
dem Freibrief für den Archivträger, Sammlungsgut zu
veräußern. 

Nachkassationen sind umstritten, wie die auch
archivrechtlich argumentierende Transferarbeit von Hanke
2006 zeigt:

http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/44242/transf_hanke.pdf

Nachkassationen regelt das NRW-Archivgesetz in dem auch für
kommunale und die weiteren öffentlichen Archive geltenden §
5 Abs. 2. Hierzu die amtliche Begründung:

"Satz 4 eröffnet dem Landesarchiv ausnahmsweise in
besonders begründeten Einzelfällen (z.B., wenn zum
Zeitpunkt der Übernahme keine vollständige Bewertung
möglich war) die Möglichkeit, nicht mehr archivwürdige
Unterlagen zu vernichten. Die Entscheidung über die
Archivwürdigkeit liegt auch in diesen Fällen ausschließlich
beim Landesarchiv."

Um eine solche Nachkassation handelt es sich bei der
Freigabe von Sammlungsgut nicht. Wenn die Archivare
Sammlungsgut zum bleibenden Bestandteil des kulturellen
Gedächtnisses erklärt haben und aus fachlichen Gründen eine
Nachkassation, die zwingend auf die Vernichtung
hinausläuft, nicht in Betracht kommt, kann trotzdem der
Archivträger sich - faktisch beliebig - über die
Fachkompetenz hinwegsetzen und den Archivar oder die
Archivarin anweisen, das Archivgut etwa einem Auktionshaus
auszuhändigen. Einen Rechtsschutz gegen diese Maßnahme für
die betroffenen Archivare oder andere Betroffene (z.B.
Schenkungsgeber) bietet das Verwaltungsrecht nicht an. 

Dieter Strauch hat in der kürzlich erschienenen
Zweitauflage seines Standardwerks "Das Archivalieneigentum"
im Kapitel "Kommunale Archive als GmbH?" (2014, S. 207ff.)
die Veräußerungsproblematik erörtert. Seine Ausführungen
sind zwar prima facie für die Veräußerungsgegner eher
positiv, gehen aber an den faktischen Machtverhältnissen
vorbei und können auch juristisch in Frage gestellt werden,
da sich eine feste Auslegung nicht etabliert hat.

Nach Ansicht von Strauch (S. 216) verletzt die Veräußerung
von Archivgut dann geltendes Recht und kann von der
allgemeinen Rechtsaufsicht beanstandet werden, wenn es zu
den in § 18, II Verf NRW genannten Geschichts- und
Kulturdenkmalen gehört. Dann wäre der Kaufvertrag und die
Übereignung der Archivalien nach § 134 BGB nichtig. Ein
Gericht könnte die Auslegung der Begriffe Geschichts- und
Kulturdenkmale voll überprüfen. Aber das würde
voraussetzen, dass eine Klagebefugnis besteht. Nach
herrschender Meinung kann sich nur die betroffene Kommune
gegen die Kommunalaufsicht wehren. Es ist jedoch nicht
davon auszugehen, dass das Land bei der Kommunalaufsicht
hinsichtlich der Veräußerung von Archivgut sonderlich
streng vorgeht. Beanstandet es nicht, kann kein Gericht
eingreifen.

Weder Schenkungsgeber noch betroffene Forscher, denen die
Arbeitsgrundlage durch eine Veräußerung entzogen wird,
steht eine Klagebefugnis nach derzeit überwiegender Meinung
zu. Das hat auch das VG Sigmaringen signalisiert, als ich
als betroffener Wissenschaftler eine Klage gegen die
Veräußerung des Wolfegger Hausbuchs einreichte, die ich
wieder zurückziehen musste, da die Veräußerung bereits
erfolgt war.

Strauch verkennt, dass das Land NRW skandalöserweise nicht
bereit ist, privates und öffentliches Archivgut
denkmalschutzrechtlich zu schützen. Das Denkmalschutzgesetz
des Landes klammert das Archivgut aus!

Es ist außerordentlich fraglich, ob ein Verwaltungsgericht
so mutig sein wird, denkmalschutzrechtlich nicht
eintragbares Archivgut trotzdem als nach der
NRW-Landesverfassung als "Denkmal" geschützt anzusehen. Zur
allgemeinen juristischen Problematik verweise ich auf
meinen Aufsatz in LIBREAS 2013:

http://www.ib.hu-berlin.de/~libreas/libreas_neu/02graf.htm 

Strauch argumentiert, dass die Entscheidung über die
Veräußerung von Archivgut nicht zu den Geschäften der
laufenden Verwaltung gehört, sondern vom Rat beschlossen
werden muss (S. 217), was die Chance eröffnet, dass der
Casus in der Presse oder Öffentlichkeit diskutiert wird. Im
Fall Stralsund hat aber der in einer Ausschusssitzung
getroffene Beschluss weder bei Presse noch bei der
Öffentlichkeit zu Nachfragen geführt. Ob die
Kommunalaufsicht tätig wird, kann sie selbst - faktisch
nach Gutdünken - entscheiden. Ein Rechtsanspruch auf ein
Einschreiten besteht erneut nicht.

Selbst wenn man Strauch folgt, spricht alles dafür, dass
eine rechtswidrig von der Verwaltung statt vom Rat
vorgenommene Veräußerung folgenlos bleibt.

Strauch referiert eine Rechtsansicht, dass die Veräußerung
von Archivgut anerkennungsbedürftig sei, da ein staatliches
Mitwirkungsrecht gegeben sei, also ein Kondominium vorliege
(S. 217). In diesem Fall dürfte die Aufsichtsbehörde auch
Zweckmäßigkeitserwägungen anstellen.

Nun könnte man fordern, dass 
- bei Archivgutveräußerungen ein förmliches
Genehmigungsverfahren installiert werden müsse
- wenigstens für die Universitätsarchive bzw. die weiteren
öffentlichen Archive nach § 11 ArchivG NRW die
Unveräußerlichkeit auch bei Sammlungsgut festgeschrieben
wird

Aber am besten streicht man die Möglichkeit der Gemeinden,
ungestraft Teile des kulturellen Gedächtnisses verscherbeln
zu dürfen, ganz! Sie verstößt gegen den in der
Landesverfassung angeordneten Schutz der Denkmale der
Geschichte und Kultur, zu denen immer auch das nach
archivfachlichen Grundsätzen bewertete archivische
Sammlungsgut zählt.

Lieber Herr Steinhauer, hören Sie bitte auf die Stimme der
Archivarinnen und Archivare, die sich in der Ablehnung
einig sind, und auf die vielen Unterzeichner der Petition
und machen Sie unser Anliegen auch zu Ihrem.

Herzlichen Gruß
Ihr Klaus Graf   

***

PS: Ich wäre dankbar, wenn möglichst viele Listenmitglieder
die oben verlinkte Petition unterzeichnen würden.

-- 
http://www.inetbib.de


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.