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[InetBib] Bibliotheken, Open Access und Paid Content



Liebe Liste,

mit wachsendem Unbehagen verfolge ich die aktuelle Diskussion um Open Access. 
Unbehagen deshalb, weil hier einige Annahmen gemacht werden, die doch sehr an 
der Realität vorbeigehen. Das fängt schon bei Sätzen an, in den sich 
Formulierungen finden wie diese: „die Bibliotheken müssen“ und dergleichen mehr.

Wer so redet, übersieht, dass Bibliotheken überhaupt nicht in der Position 
sind, „das Steuer herumzureißen“. Wissenschaftliche Bibliotheken sind in aller 
Regel unselbständige Einheiten von Hochschulen. Sie mögen im konkreten 
Erwerbungsgeschehen durchaus eigene Entscheidungen treffen können, über die 
grundsätzliche Verwendung der Mittel befindet aber nicht die Bibliothek, 
sondern die Hochschulleitung. Richtigerweise muss es daher heißen: „Die 
Hochschulen müssen …“

Wenn ich mir nun die Hochschulen ansehe, so haben wir in den letzten 20 Jahren 
eine wachsende Verselbständigung gegenüber ministerieller Einflussnahme 
gesehen, so dass hier jede Hochschule unter dem Schutz der 
Wissenschaftsfreiheit im Prinzip machen kann, was sie will. Das bedeutet ein 
ernstes Problem für eine koordinierte Umsteuerung. Zur Erinnerung: Es war 
früher einmal so, dass die Erwerbungshaushalte zentral für alle Hochschulen 
eines Landes vom Ministerium festgelegt wurden. Diese für eine Umsteuerung sehr 
praktische Stellschraube haben die Wissenschaftspolitiker schon vor Jahren 
unter den Schlagworten von Deregulierung und Autonomie vielleicht etwas 
vorschnell aus der Hand gegeben.

Aber stellen wir uns einmal vor, wir hätten diese zentrale 
Steuerungsmöglichkeit noch. Was brächte das? Wissenschaft ist nicht das, was 
beispielsweise ein Ministerium in Wiesbaden oder Düsseldorf entscheidet. 
Wissenschaft heute ist global. Und wenn in bestimmten Disziplinen die Musik nun 
einmal im paid content spielt, dann ist es sehr naiv zu meinen, man könne hier 
allen Ernstes ministeriell gegensteuern.

Für die Verlage ist das eine sehr komfortable Situation, weil sie es geschafft 
haben, für hunderte und aberhunderte Autoren unentbehrlich zu werden, ohne dass 
es so einfach möglich wäre, auf der Nachfrageseite ein relevantes Gegengewicht 
zu schaffen oder eine Alternative zu eröffnen, auf die ganze Fächer in kurzer 
Zeit umsteigen könnten. Wer sollte auch die vielen einzelnen Akteure quer über 
den Globus koordinieren?

HIER liegt das Problem. Mit dem Erwerbungsverhalten der Bibliotheken, die als 
abhängige Institutionen nur das vollziehen, was die Wissenschaftler, die sie zu 
versorgen haben, mit ihrem Publikationsverhalten verursacht und damit auch 
entschieden haben, hat das nichts zu tun.
 
Noch einmal: Wissenschaftliche Bibliotheken sind keine publikationspolitischen 
Akteure, auch wenn manche sich gerne als solche stilisieren, sondern bloß 
weisungsabhängige Beschaffungsabteilungen einer Wissenschaft, für die Open 
Access offenbar noch kein besonders relevantes Thema ist. Vielleicht liegt es 
an dem modischen betriebswirtschaftlichen Slang in unseren Häusern, der von 
"Kunden" und "Nachfrage" spricht, der dazu führt, mit einem leidlich großen 
Erwerbungshaushalt so etwas wie eine „Nachfragemacht“ zu verbinden.

Dass dem nicht so ist, das ist vielleicht der wahre Kern der hier in der Liste 
vorberachten Kritik, denn das Handeln der Biblioteken widerspricht tatsächlich 
ihrem oft formulierten Selbstverständnis. Richtigerweise sollte man als 
Bibliothek anfangen, seine eigene Rolle und seine eigenen 
Handlungsmöglichkeiten etwas realistischer wahrzunehmen und beides entsprechend 
zu kommunizieren. 

Schönes Wochenende
Eric Steinhauer
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