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[InetBib] Gedanken zum Semantic Web und zu Linked Data



Hoi.

Ich will ein wenig laut nachdenken. Mal sehen, wozu das fuehrt.


Linked Data ist doch ein alter Hut, oder? Spaetestens mit dem Web
und HTML ist es Realitaet und vom Normalnutzer wahrgenommen worden.
Auch in der Erschliessung in Bibliotheken kopiert man Informationen
(z.B. den Autornamen) nicht mehr, sondern verweist auf sie. Warum
ist Linked Data denn dann heute so ein tendiges Konzept, mit dem
man scheinbar die Welt revolutionieren kann?

Bei Linked Open Data wird's schon spannender. Das ist ebenfalls
trendy. Da entdecken die oeffentlichen Einrichtungen naemlich zur
Zeit, dass sie die Datenergebnisse ihrer (von den Buergern
finanzierten) Arbeit diesen auch wieder bereit stellen koennten.
Solche Trends wuensche ich mir noch viel oefter! Letztlich ist
das aber, aus meiner Sicht, nur das Nachholen von bislang
ignorierten ethischen Verpflichtungen. 

Nun zum Semantic Web. Das das ist, meiner Meinung nach, etwas
tatsaechlich neues.

Was ist das Semantic Web? Ich wuerde sagen, es ist zu
75% Marketingbegriff, zu 20% Theorie und zu 5% Realitaet,
zumindest wenn man nicht nur Semantic sondern auch Web --
also vielfaeltige Vernetzung -- erwartet.

Wir zeichnen in Bibliotheken schon lange semantisch aus, und in
der chaotischen Welt des Web da draussen lernen sie es auch
inzwischen (mit <th> z.B. und weniger <div>-Orgien). Die
Semantik ist also vorhanden. Linked Open Data koennen wir auch
bieten.

Aber was ist mit der Vernetzung? Was ist mit dem (Spider-)Web?
Davon nehme ich bislang wenig in der Realitaet wahr. Wir bieten
unsere semantischen Daten an, aber werden diese auch
referenziert und wird damit vernetzt? Oder gibt es nur wenige
explizit angelegte Datentransferwege mit speziell programmierten
Konvertern und nach jedem Abgleich sind es doch wiederum nur
separate abgeschottete Welten? Ich sehe schon Ansaetze von einem
Semantischen *Web* (am auffaelligsten bei der Wikipedia), aber
es ist noch ein weiter Weg zu gehen, denke ich.

Ein Problem sehe ich hierin:

[2015-07-03 09:39] Sven Hirsch <shirsch@xxxxxxxxxxxxx>

Ich sage in dieser Liste nichts neues, wenn ich auf folgendes
hinweise: Ohne u.a. terminologische und begriffliche Kontrolle der
genutzten Benennungen ist die Semantik verflogen, ehe diese mit einer
Technologie gleich welcher Art repräsentiert worden ist.

Ich will mir erlauben, zu behaupten, dass dies eine typisch
bibliothekarische Sichtweise ist: absolut statisch, voll nach
Wasserfallmodell. So *kann* kein Semantic Web entstehen, meine
ich. Je mehr (gleichberechtigte) Beteiligte (und beim Semantic
Web sind es massiv viele), desto freier muessen die Regeln
sein -- sie koennen also nur Konventionen sein -- denn sonst
einigt man sich nie.

Ich will Sven Hirsch nicht unrecht tun, wenn ich auf diesen paar
herausgerissenen Worten rumreite! Sie erklaeren nur so schoen,
warum die Bibliotheken beim Semantic Web dort sind wo sie sind,
naemlich noch weit von den Verheissungen der Theorie entfernt.

Unwillkuerlich habe ich mich dann gefragt, wo ich selbst denn
das Semantic Web erfolgreich in der Praxis sehe. Mir faellt dazu
ein ueberzeugendes Beispiel ein: Die Openstreetmap.

Diese Karte ist technisch nur eine grosse Datenbank voll
simpler Informationsstueckchen. Da gibt es Knoten (also Punkte
mit Koordinaten), Wege (also Sequenzen von Knoten; Flaechen
sind geschlossene Wege), Relationen zwischen solchen Objekten,
und Tags (also Attribute, d.h. Key-Value-Paare, fuer all die
vorigen Objekte). Das war's schon, im Wesentlichen. (Diese
Daten sind linked und open.)

Das Bemerkenswerte an der OSM ist aber ihre Semantik. Die ist
naemlich in keiner Weise zementiert. Es gibt keinerlei
Einschraenkungen fuer die semantische Auszeichnung. Es gibt
kein festes Regelwerk. Alles ist jederzeit im Fluss. Letztlich
basiert alles auf Best-Practices, einer guten Dokumentation
zur Interpraetation der Semantik verbreiteter Tags,
Abfragemoeglichkeiten fuer die Haeufigkeit von Tags, und
Datennutzungsprogramme (Renderer fuer grafische Karten,
Routing-Programme, etc.). Auf dieser Basis schafft es die
OSM-Community auf bemerkenswerte Weise den Nuetzlichkeitsgrad
der semantischen Auszeichnung hoch zu halten. Trotz fehlender
Kontrolle verfliegt keine Semantik -- im Gegenteil, die mehrt
sich und ist wertvoll ... Es gibt Anwendungen verschiedenster
Art auf Basis dieser Daten. Man muss sich nur mal ein Bild
davon machen!
http://wiki.openstreetmap.org/wiki/DE:List_of_OSM-based_services

Die OSM ist ein Teil eines sematischen Netzes, mit einer Fuelle
an brauchbarer sematischer Information, mit Moeglichkeiten zu
wachsen und auf Veraenderungen zu reagieren. Und das alles,
obwohl (oder gerade weil?!) es in ihr keine kontrollierten
Vokabulare gibt. Kontrolle (Im Sinne von Macht ueber etwas zu
haben.) gibt es im Bezug auf die Semantik ueberhaupt nicht.
Und doch ist die OSM ein funktionierendes Paradebeispiel fuer
eine Realitaet des Semantic Web, die sich weit an die
Verheissungen der Theorie angenaehert hat. (Allerdings sehe
ich auch dort noch viele separate Welten, die sich nicht
einfach zu einem grossen Ganzen zusammenfuegen lassen. Auch
hier ist also noch viel Weg zu begehen.)

Es ist wie mit der Wikipedia, da meinte man auch, dass das
dortige Chaos nie mit den streng kontrollierten Enzyklopaedien
konkurrieren koenne. Heute weiss man, dass sie es kann ...
zwar nicht in jeder Hinsicht, aber doch in Summe. Der
entscheidende Schritt dabei ist das Wagnis, auch mal die
direkte Kontrolle abzugeben. Man kann entweder mit der
Kontrolle in der Hand erfolglos bleiben, oder lernen mit den
kleineren Nachteilen der indirekten Einflussnahme umzugehen,
um die grossen Vorteile der dadurch entstehenden Moeglichkeiten
nutzen zu koennen.

Zusammenfassend: Ich habe herausgelesen, dass das Semantic
Web noch zu wenig Realitaet sei. Ich glaube, das liegt
daran, dass die Ausgangsbasis, Rahmenfaktoren, und die
Bereitschaft dafuer noch nicht breit genug vorhanden sind.
Um an die Moeglichkeiten einer bahnbrechenden, neuen Welt
zu kommen, muss in einer Revolution auch ein Teil der alten
Werte geopfert werden. Wenn man dazu nicht bereit ist,
werden einem die neuen Moeglichkeiten grossteils versagt
bleiben. Mir war es wichtig, ein (aus meiner Sicht) gutes
Beispiel fuer das Semantic Web in Aktion anzufuehren, da ich
der Meinung bin, dass man am besten voran kommt, indem man
von denen lernt, die bereits das tun, was man selber gern
koennen wuerde.

Ich hoffe, meine Gedanken waren zumindest unterhaltsam. Im
besten Fall regen sie zum eigenen Nachdenken an.


markus

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