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[InetBib] Fwd: Re: Aw: Re: Bibliotheken ohne Bücher?



Lieber Herr Delin,

ich kann Ihren Standpunkt, sozusagen aus realpolitischer Sicht gut
nachvollziehen, nur aus wissenschaftlicher Sicht muss man Unsinn auch
als solchen erkennen, benennen und berichtigen. Bei K. Popper heißt
dieser Vorgang Falsifikation, und ist der Kern der Wissenschaft.

Abgesehen davon, dass Dänemark bibliothekarisch betrachtet ein höchst
interessantes Beispiel ist, darf man nicht vergessen, dass dort das
Verlagswesen über die Bibliotheken subventioniert wird, nicht zuletzt
um mit Übersetzungen die Landessprache lebendig zu erhalten. Das
amerikanische Bibliothekswesen ist damit beispielsweise nicht zu
vergleichen. Dass wir bereits das Verschwinden des stationären
Buchhandels beobachten, ist unübersehbar, auch wenn der Börsenverein
mit allen Kräften dagegen kämpft, um den Vorgang zu verzögern.
Dagegen suchen die Bibliothekare aller Länder nach neuen
Existenzmöglichkeiten, aber dass muss ich Ihnen ja nicht sagen. Sicher
ist Amazon schon heute die schärfste, aber nicht die einzige Konkurrenz
der Buchhandlungen und Bibliotheken.

Ansonsten zeigt ihr Rechenbeispiel, wie absurd die Situation zur Zeit
ist. Obwohl jeder weiß, dass das Drucken von Büchern gegenüber der
Zurverfügungstellung einer Printdatei etliche Zusatzkosten (Papier,
Druckkosten, Bindung, Lagerhaltung, Transport) verursacht, werden die
Kosten für die E-Book-Nutzung künstlich hoch gehalten, um die moderne,
private Vervielfältigung soweit es geht zu vermeiden.

Vor etlichen Jahren haben die Verlage argumentiert, sie würden mit
einer CD-ROM voller Bücher im übertragenen Sinnen keine Autos, sondern
die Autofabrik verkaufen. Das klang für etliche Menschen plausibel. Man
hatte nur vergessen, dass die „Autofabrik" bereist in jedem PC
enthalten war, und das ist das eigentliche Problem der Besitzer von
Verwertungsrechten bzw. Copyrights.

Selbstverständlich gilt es heute als geistiger Diebstahl, was Alexandra
Elbakyan in Sci-Hub gemacht hat, ob das aber die richtige Bezeichnung
dafür ist, wird immer fraglicher, wenn Autoren Erkenntnisse publizieren
wollen und ein Verlag wie Elsevier permanent steigende finanzielle
Barrieren aufbaut. Deshalb beobachten wir ja auch in der Open Access
Bewegung den Trend, dass bei einem wissenschaftlichen Projekt nicht nur
die Forschung selbst, sondern auch deren Publikation bezahlt wird, die
dann allen Menschen zur Verfügung steht. Parallel dazu nimmt die Zahl
der sog. Indies zu.

Geistiges Eigentum kann man eigentlich nur erwerben, wenn man es durch
Publikation allgemein zu Verfügung stellt.

MfG

Walther Umstätter

Am 2016-02-16 22:42, schrieb Peter Delin:

Lieber Herr Umstätter,

es nützt wenig, den Zustand der Welt zu beklagen, wie sie nun einmal
ist. Die deutschen Bibliotheken werden ganz sicher nicht für Ebooks
die selben Rechte erhalten wie für Bücher (also
Erschöpfungsgrundsatz bei Kauf und Ausgleich durch die
Bibliothekstantieme für den Verleih). Der DBV reitet hier ein totes
Pferd.

Denkbar sind wenn überhaupt Modelle wie in Dänemark, wo die
Bibliotheksplattform eReolen das dänische Verlagsangebot digital für
alle eingetragenen Leser der öffentlichen Bibliotheken vorhält (bei
unbegrenztem gleichzeitigen Zugriff und monatlicher Kontingentierung
pro LeserIn).  Für jede Ausleihe eines Ebooks zahlt die Bibliothek ca
2 Euro. Allerdings macht der größte dänische Verlag Gyldendal da
gar nicht mit und der zweitgrößte Lindhardt & Ringhof hat einen
Vertrag nur für zwei Jahre abgeschlossen.  Es ist also klar, dass man
auf dieser Basis keine dauerhafte kontinuierliche Bibliotheksarbeit
machen kann.

Doch nehmen wir einmal an, man würde dem Traum von Rafael Ball folgen
(Devise: Weg mit den Büchern!) und die Buchausleihe der öffentlichen
Bibliotheken total auf Ebooks umstellen, so ergäbe sich folgendes
Bild:
Nach der Deutschen Bibliotheksstatistik hatten, wenn ich mich da nicht
vertan habe, die öffentlichen Bibliotheken 2014 229.077.534
Ausleihen. Bei 2 Euro pro Ausleihe wären also jährlich 458.155.068
Euro zu zahlen, und zwar immer wieder meist für die selben Bücher,
wohl ohne Gewähr auf einen dauerhaften Zugriff. Der Erwerbungsetat
der öffentlichen Bibliotheken betrug inkl. Zeitschriften und Einband
laut DBS 2014 104.745.982 Euro. Die Bibliothekstantieme hat den Staat
2010 pro Buchausleihe 3-4 Cent, ingesamt 11,2 Mio Euro gekostet.
Unsere Effizienz-Experten wären natürlich trotzdem begeistert. Was
man da alles einsparen könnte... Allerdings würde dieses Modell am
Widerstand der Bevölkerung scheitern.

Dennoch hätte man nach dem dänischen Modell theoretisch von jeder
öffentlichen Bibliothek aus, genauer mit jedem Bibliotheksausweis,
den vollen Zugriff auf den gesamten Buchmarkt. Die Buchbranche
erzielte 2014 Einnahmen von 9,32 Milliarden Euro, ungefähr die
Hälfte ging an den stationären Buchhandel. Nach diesem Modell
würden aller Voraussicht nach sowohl die öffentlichen Bibliotheken
als auch der stationäre Buchhandel verschwinden. Kaffeetrinken kann
man ja auch woanders. Bibliotheken und Buchhandel würden sich in
einen Berechtigungsausweis für den Zugriff auf den digitalen
Buchmarkt verwandeln. Damit die Verlage ihren Umsatz von 4,74
Milliarden Euro halten können, müssten die Ausleihen sich
verzehnfachen, was vielleicht denkbar wäre, schließlich wäre es ja
für die LeserInnen umsonst, aber der Buchmarkt wäre weitgehend
verstaatlicht. Ich weiß, die Zahlen sind nicht ganz komplementär,
aber so ungefähr würde dieses völlig unrealistische Bild aussehen.

Beste Grüße
Peter Delin

Peter Delin
Ringstraße 100
12203 Berlin

Tel.: 030/81305675
Mobil: 015787311689
Mail: peter.delin@xxxxxx
https://dvdbiblog.wordpress.com/

GESENDET: Dienstag, 16. Februar 2016 um 19:52 Uhr
VON: "Walther Umstaetter" <walther.umstaetter@xxxxxxxxxxxxxxxx>
AN: inetbib@xxxxxxxxxx
BETREFF: Re: [InetBib] Bibliotheken ohne Bücher?
Liebe Listenteilnehmer/innen,

die Auseinandersetzung zwischen Ball, Hagner und ihren jeweiligen
Mitstreitern ist eigentlich keine Diskussion, sondern eher eine
Kriegsberichterstattung über den Kampf der Verlagslobby zur Erhaltung
des gedruckten Buches mit Scheinangriffen, taktischen Wendungen und
Frontwechseln bei Open Access. Nur es geht um Sieg oder Niederlage,
aber
nicht um geistige Auseinandersetzung.

Der größte Etappensieg dabei war die juristische Festlegung: „Das
E-Book
ist aber kein Buch!" Eigentlich ein selten dummer Satz, den normale
Leser kaum verstehen können, denn wenn damit die Aussage gemeint ist:
Das E-Book ist kein gedrucktes Buch, dann fehlt das Wort
„gedrucktes",
nur um zu provozieren. Wenn damit aber gemeint ist:
Das E-Book ist kein Buch (Buch als Oberbegriff von gedruckten,
geschriebenen bzw. elektronisch gespeicherten Monographien -
thematisch
begrenzten Informationseinheiten), dann ist es natürlich absurd, den
Unterbegriff vom Oberbegriff auszuklammern. Immerhin geht es hier um
ein
und das selbe Dokument, mit den selben Urhebern, Aussagen und
Zitationsstellen.

Hier wird also absichtlich eine unscharfe Begrifflichkeit von Buch
gewählt, nur um bei Bedarf taktische Gewinne zu erzielen, und damit
man
darüber nicht ernstlich diskutieren kann. So wurde das E-Book
kürzlich
rasch wieder zum Buch, als es um die Buchpreisbindung ging. Als man
noch
um die Mehrwertsteuer kämpfte, war es der Verlagslobby noch
wichtiger,
das E-Book als Datei zu deklarieren, damit die Verwertungsinhaber
immer
im Besitz ihrer Verwertungsrechte bleiben können, und nur
Nutzungsrechte
vergeben müssen. Als Kollateralschaden bleiben zur Zeit im Kampf um
das
E-Book die Bibliotheken auf der Strecke, wobei sich einige
Bibliothekare
darüber noch freuen, weil auch sie der Illusion unterliegen, dass das
gedruckte Buch seine alte Bedeutung erhalten kann. Als würden nicht
täglich mehr Bücher und Zeitschriften in elektronischer Form
angeboten,
um die Erde geschickt, genutzt und digital erzeugt.

Diese unscharfe Begrifflichkeit führt dann auch zu den so beliebten
Oxymoronen wie „Bibliotheken ohne Bücher", die immer so tief
geistig
wirken und an „Ich weiß, dass ich nichts weiß" erinnern. So wie
auch
„Ein E-Book ist aber kein Buch." Insider freuen sich dann, dass nur
sie
diesen Unsinn verstehen.

Das größte begriffliche Durcheinander entsteht dadurch, dass man
Wissen
in Zukunft noch öfter als bisher in Computern modellieren, über
Expertensysteme automatisieren und in Lernsystemen interaktiv
optimieren
kann. Natürlich sind das dann alles keine Bücher oder Zeitschriften
mehr, sondern Formen von Wissensbanken mit Inferenzmaschinen. So haben
bei einer Delphistudie (Alice Keller 2000) etliche Experten bezüglich
der Zukunft von Zeitschriften ihre Vorstellungen entwickelt, ohne
daran
zu denken, dass das dann keine Zeitschriften mehr sind. Dass die
Verlage
diesen Mehrwert schon für die heutigen E-Books in Anspruch nehmen,
nur
weil man in den E-Books jedes Wort suchen kann, was in gedruckten
Büchern über deren Indices nur bedingt möglich ist, entbehrt nicht
einer
gewissen Komik, wenn man sich daran erinnert, mit welchem Aufwand die
Verlage diese Suchfunktion, die man schon in jedem ASCII-Text benutzt,
durch die E-Book-Formate unterdrückt haben, hauptsächlich darum,
damit
der Leser eines E-Books auch das gleiche Feeling wie beim gedruckten
Buch hat, wenn er vor oder zurück blättert. Im Prinzip sind doch
E-Books
Simulationen der gedruckten Bücher. Auch die dreiste Behauptung, die
man
wiederholt hört und liest, um E-Book-Formate zu rechtfertigen,
ASCII-Texte seien unstrukturiert, werfen die Frage auf, ob einige
Verleger die Bedeutung von Punkt, Komma etc. vergessen haben.

Schon in den klassischen Volltextrecherchen einiger Datenbanken waren
die Interpunktion eine wichtige Voraussetzung für die Recherche, die
E-Books bis heute nicht erbringen (z.B. Suche Wort A UND B im selben
Satz, Absatz etc.). Der sogenannte Mehrwert der E-Books ist somit ein
Feigenblatt, nur um Verwertungsrechte nicht veräußern zu müssen,
und
etliche Juristen sind darauf reingefallen. Interessant ist dabei auch,
dass man nun in Wikipedia unter „E-Book" den schönen Satz findet
„Bis
vor wenigen Jahren kam dafür noch das PDF Format zum Einsatz.".
Marschrichtung: Ein elektronisches Buch ist nur dann ein solches, wenn
es nicht kopiert werden kann, und wenn die Verleger die Benutzung
jederzeit abschalten können.

Bei diesem Rückblick versteht man auch, warum Laien manche Bücher
auch
als Wissensbanken bezeichnen, nur weil sie den Unterschied zu echten
Wissensbanken nicht kennen. Das erinnert an Bibliotheksprojekte, in
denen so mancher Online Katalog vollmundig als Virtuelle Bibliothek
deklariert wurde, um die entsprechenden Projektgelder zu akquirieren.

Jeder weiß, dass wir heute immer öfter frei entscheiden können, ob
wir
ein Buch gedruckt, auf CD-ROM oder als E-Book erwerben wollen, dass
gedruckte Bücher eigentlich nichts anderes als eine Ausgabeform der
Dateien sind, die auch als E-Book angeboten werden, und trotzdem ist
es
der Verlagslobby gelungen, die Digitale Bibliothek mit Hilfe der
Juristen in ihren Privatbesitz zu bringen, und die Bibliotheken
weitgehend zu enteignen. Natürlich hat ihnen dabei der allgemeine
Trend
zur Privatisierung mit GATS beim weltweiten Zusammenbruch der
kommunistischen Idee geholfen. Nun warten wir auf die ideologsche
Gegenbewegung, die sich im Kampf gegen TTIP bereits ankündigt.

Worin liegt die Definition des Buches:
„Das Buch im eigentlichen Sinne ist nach seiner Form ein nicht
periodisch erscheinendes Druckwerk mit meist hundert bis tausend
Seiten,
die durch Heftung oder Leimung verbunden und durch einen Einband oder
Umschlag geschützt sind. Trotz erheblicher Schwankungen in Form und
Größe nimmt es im Regal meist weniger als 3 x 25 x 25 cm ein. Es ist
damit eine handhabbare ,Informationseinheit'. In elektronischer Form
spricht man vom E-Book.
Entsprechend der UNESCO sollte bei Büchern die Zahl von 49 Seiten
nicht
unterschritten werden. Anderenfalls spricht man von einer Broschüre."
(Lehrbuch des Bibliotheksmanagements S. 9 (2011)

Die große Bedeutung des Buches in der Geschichte der Menschheit
erwuchs
aus seiner Vielfalt und Anpassungsfähigkeit an unzählige
monographische
Themen mit einem oder mehreren Urhebern. Aber auch hier gibt es
verheerende Missverständnisse, weil die Verlagslobby gern von
Urheberrechten spricht, aber ihre Verwertungsrechte meint. Wie man an
den Copyrights erkennt geht es weniger um Urheber, als um Kopierrechte
und damit wissenschaftlich gesprochen um die Erzeugung von Redundanz
(und nicht um Information, wie Laien gern und oft nachbeten). Die
Einschränkung „im eigentlichen Sinne" macht auch deutlich, dass die
Menschheit beim Umstieg von den Buchrollen, zu den gebundenen
Büchern,
sich darüber im klaren war, dass der Inhalt einer Papyrusrolle,
übertragen auf ein geschriebenes bzw. gedrucktes Buch, als
Informationseinheit, gleichbedeutend ist. Auch die digitale
Archivierung
erfordert, dass ein Buch ein Buch bleibt, und der weitaus größte
Teil
aller Bücher kann nur noch digital archiviert werden.

Was die Verlagslobby mit allen Mitteln versucht, ist die Verhinderung,
dass Dokumente immer rascher und authentischer kopiert und an alle
Menschen in dieser Welt verbreitet werden können. Nein! Das ist nicht
ganz richtig, nur einige versuchen dafür unanständig viel Geld zu
verlangen, mit der Ausrede, sie täten es für die Urheber.

Dieser Krieg tobt nun schon seit einem halben Jahrhundert, und aus
jeder
neu heranwachsenden Generation werden frische Kräfte an die Front
geschickt. Nicht selten auch Professoren und Bibliotheksdirektoren,
die
für das Verlagswesen eine Lanze brechen, auch wenn sie dabei ihre
wissenschaftliche Integrität verlieren ;-)

MfG
Walther Umstätter

Am 2016-02-15 08:01, schrieb Michael Lemke:
Liebe Liste,

Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH
Zürich,
hat sich ebenfalls in der NZZ zum Interview von Herrn Ball
geäu8ert:


http://www.nzz.ch/feuilleton/ueber-eine-zukunftsvision-die-ein-horrorszenario-sein-koennte-1.18693786


einen schönen Tag,
Michael Lemke
UB Passau


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.