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[InetBib] Katastrophal: Archivfunktion der HBZ-Mailinglisten wird abgeschaltet



Aufgrund der Wichtigkeit des Themas gebe ich meinen Beitrag

https://archivalia.hypotheses.org/72245

hier ganz wieder.

Klaus Graf

***

Am 17. Mai 2018 erreichte mich (als Bezieher der RABE-Liste) folgende
Hiobsbotschaft:

„Liebe Nutzerin, lieber Nutzer von hbz-Maillinglisten,

zum 25.05.2018 erhält die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) volle
Wirkkraft. Das hbz nimmt die DSGVO ernst und wird Datenschutz gemäß
DSGVO gewährleisten.

Damit ist in Artikel 17 das Recht auf Löschung (Recht auf
Vergessenwerden) geregelt: eine betroffene Person kann verlangen, dass
die sie betreffende personenbezogenen Daten ohne unangemessene
Verzögerung gelöscht werden. Dementsprechend wäre ein entsprechendes
Löschkonzept für die Archivfunktion von unseren Mailinglisten zwingend
notwendig. Da ein solches nur mit unverhältnismäßig hohem personellen
Aufwand zu bewerkstelligen und somit nicht wirtschaftlich wäre, haben
wir uns entschieden, ab sofort die Archivfunktion in unseren
Mailinglisten abzuschalten.

Wir bitten um Verständnis für diese Entscheidung.

Mit freundlichen Grüßen
Michael Nelißen
behördlicher Datenschutzbeauftragter des hbz“

Ich halte das für die Bankrotterklärung einer öffentlichen Stelle in
Sachen Datenschutz vs.
Kommunikationsgrundrechte/Benutzerfreundlichkeit.

1. Es ist schon zu bezweifeln, dass eine aufwändige Löschroutine nötig
wäre.

In Mailinglisten werden auch jetzt schon manuell in Ausnahmefällen z.B.
bei persönlichen Beleidigungen Beiträge gelöscht. Es ist nicht
sachgerecht, die Löschmöglichkeiten jetzt auszuweiten, denn die
Vollständigkeit des Listenarchivs wird durch die
Kommunikationsgrundrechte insbesondere die Meinungsfreiheit geschützt.

Art. 17 DSGVO gibt hier zwei Ausnahmetatbestände vor:

– „zur Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information“

– „für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke“

Es ist nicht Sache des HBZ, durch eine einseitige Auslegung der DSGV
das Recht auf freie Meinungsäußerung und Information und die
Archivierung auch wissenschaftlich bedeutsamer Informationen massiv zu
behindern.

Mailinglistenbeiträge sind Veröffentlichungen, die unter dem Schutz der
Meinungs- und Pressefreiheit stehen (Art. 5 GG). Die bestehenden
Archive haben zudem Anteil am Grundrecht der Informationsfreiheit.
Damit ist zwar keine Bestandsgarantie verbunden, aber der Hinweis der
DSGV auf die Informationsfreiheit zwingt eine öffentliche Stelle zu
einer Abwägung.

Es heißt ausdrücklich nicht: Zwecke öffentlicher Archive. Die
Beibehaltung eines öffentlichen Archivs einer bibliotheksfachlichen
Mailingliste liegt sehr wohl im öffentlichen Interesse. Letztlich würde
ein Verwaltungsgericht entscheiden müssen, ob diese Interpretation
zutrifft.

2. Mailinglistenarchive sind für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
aber auch in wissenschaftlicher Hinsicht außerordentlich wichtige
Ressourcen der Fachkommunikation.

Die wohl wichtigste betroffene Mailingliste ist die Diskussionsliste
der öffentlichen Bibliotheken Forumoeb (es gibt aber noch viele andere
Listen beim HBZ). Hier gab es eine kleine Diskussion, die ich relativ
ausführlich zitieren muss, da der Zugriff auf die Archive demnächst
nicht mehr möglich sein wird.

„Wir haben 2010 einige Mailinglisten über unser Gmailkonto abonniert,
das dennoch erst zur Hälfte gefüllt ist. So können wir noch alle
Listenbeiträge der letzten Jahre wiederfinden.“

„wenn das HBZ die Archivfunktion (für mich zum Teil leider
verständlich) für die Mailinglisten abschaltet, verlieren die Listen
völlig an Bedeutung, da gerade die Suche im Archiv eine sehr wichtige
Funktion für den Alltag darstellt und ein Abspeichern ALLER Listenmails
in eigenen Mailaccount nicht machbar ist.“

„Die Möglichkeit, Sachen auch Jahre später noch einmal nachschlagen zu
können, war auch für mich immer unschlagbar wertvoll.“

Als Alternativen wurden vorgeschlagen ein Wiki bzw. Portal sowie ein
Forum.

„die Mailinglisten haben sich bewährt und könnten m.E. bleiben, wenn
wir eine Möglichkeit finden, sie um den Ort zu ergänzen, an dem
praktische Ergebnisse, Erfahrungen, Tipps und Materialien thematisch
sortiert gespeichert werden können.

Ein Portal für „Bibliothekspraxis“

Das wäre eine geeignete Aufgabe für Studenten in Zusammenarbeit mit den
Fachstellen.

Für die dringend nötige Portalpflege könnten die Fachstellen gemeinsam
eine
bibliothekarische Stelle finanzieren.“

Zum Forum wurde angemerkt (gilt sicher auch für ein Wiki):

„ein Forum ist leider keine Alternative, dieses DSGVO konform zu
betreiben
ist nämlich noch komplexer als eine Website oder ein Blog. Nur mal so
ein
paar Pflichten für Forenbetreiber ab dem 25. Mai…

– Pflicht zur Führung eines Verzeichnisses aller
Datenverarbeitungstätigkeiten
– Dokumentationspflichten
– Neue Vorgaben für Einwilligungserklärungen online und offline
– Erweitere Vorgaben für Datenschutzerklärungen auf Webseiten
– Pflicht zur Datenportabilität
– “Recht auf Vergessenwerden” von Nutzerdaten
– Neuregelungen bei der Auftragsdatenverarbeitung
– Neuregelungen bei Mitarbeiterdaten
– privacy by design und privacy by default
– Personenbezogene Daten von Kindern
– Meldepflicht von „Datenpannen”
– Neue Haftungsregeln und höhere Bußgelder
– Lt. dieser Tage herausgegeben Positionspapier des Datenschutzkreises
(DSK), muss für alle Funktionen die Tracken oder andere Funktionen
ermöglichen, ein Opt-In eingeholt werden. Das müsste für jeden
Besucher,
pro eingesetztem Tool gemacht werden. Damit würde sich jeder Besucher
erstmal durch eine Reihe von Fragen klicken müssen. Und wenn er die
verneint, dann muss er den Inhalt trotzdem sehen können.

Wer das rechtssicher betreiben möchte, dem wünsche ich viel Erfolg,
aber da
hätte man dann auch die Listen weiter archivieren können….

DSGVO genervte Grüße“.

Dazu noch folgende Anmerkungen:

Die Anlage eigener Archive ist keine realistische Option. Eine
Gesamtarchivierung bedeutet einen hohen Aufwand, den kaum jemand auf
sich nehmen möchte. Bei einer Auswahl stellt sich das Problem, dass bei
Interessensänderung die benötigten Mails fehlen. Bei dienstlichem
Betrieb ist das Unterhalten eines solchen Archivs natürlich auch wieder
DSGVO-relevant …

Mailinglisten sind generell wichtige wissenschaftsgeschichtliche
Quellen, da sie Auskunft geben über die Nutzung einer in den 1990er
Jahren neuen Technologie, also bedeutsame Quellen für die Geschichte
des Internets, aber auch über die „Alltagsgeschichte“ des jeweiligen
Fachs, da sie alltägliche Diskussionen und Probleme abbilden. Aufgrund
ihrer (bisher stabilen) Netzarchive (beim HBZ anscheinend generell seit
2005 geführt) sind sie im Prinzip zitierfähige Veröffentlichungen,
deren dauerhafter Erhalt im öffentlichen Interesse liegt. Bei enger
gefassten Themen handelt es sich vielfach um anderweitig nicht
vorhandene Wissens-Schätze.

Für Linked Open Data wäre beispielsweise ein dauerhafter Link auf einen
Beitrag der Linked-Open-Data-Liste „lobid“ des HBZ wichtig.

Angesichts der Probleme bei der Archivierung kommerzieller
Social-Media-Angebote (Facebook, Twitter) sollte man doch froh sein,
dass man mit den vergleichsweise kleinen Mailinglistenarchiven eine
kompakte Quellenüberlieferung zum Web 1.0 besitzt.

Grundsätzlich sollten Mailinglistenarchive öffentlich im Netz
zugänglich sein. Leider sind das die meisten HBZ-Listen nicht. Das
Hauptargument dagegen, man diskutiere unbefangener, kann ich aufgrund
eigener Erfahrungen nicht empirisch bestätigen. Aber mit Blick auf die
DSGVO macht öffentlich-nichtöffentlich ersichtlich keinen Unterschied.

3. Es ist ein Unding, dass ein Datenschutzbeauftragter eine so
katastrophale Entscheidung ohne Diskussion mit den Beteiligten extrem
kurzfristig mitteilt.

Rechtlich ist die Entscheidung als Grundrechtseingriff zu
qualifizieren. Dies wäre natürlich von Verfassungsjuristen im Einzelnen
zu belegen, hier genügt der Hinweis, dass insbesondere
Medienwissenschaftler eine bedeutsame Quelle weggenommen wird.

Die von oben diktierte Entscheidung ist nach meiner festen Überzeugung
alles andere als „alternativlos“, sie passt sich ein in eine – auch –
von hysterischen Zügen begleitete angstgeprägte Diskussion über die
DSGVO. Durch eine vermeintlich vorsichtige Haltung wird das Recht der
Benutzerinnen und Benutzern von Mailinglisten auf eine effiziente
Fachkommunikation mit Füßen getreten.

Alternativen können jetzt nicht in Ruhe entwickelt werden, eine
vernünftige Lösung zeichnet sich auch noch nicht ab, da auch die
bislang vorgeschlagenen Alternativen (Eigenarchivierung, Wiki/Portal,
Forum) entweder nicht machbar sind oder vergleichbare
datenschutzrelevante Probleme aufwerfen.

4. Webarchivierung und Übernahme ins Archiv können – wenn überhaupt –
nur teilweise und auch im wesentlichen nur für die
wissenschaftsgeschichtliche Nutzung die katastrophalen Folgen der
Abschaltung der Archivfunktion abmildern.

Mit Robots.txt verhindert das HBZ, dass frühere Inhalte wenigstens im
Internet Archive recherchiert werden können (Screenshot unten).

Eine Webarchivierung wie in Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz
existiert in NRW nicht. Da sie vom HBZ geleistet würde beisst sich die
Katze hier in den eigenen Schwanz, denn die angeblich so aufwändige
Löschroutine beträfe dann auch ein im Netz verfügbares Nutzungsarchiv.

Die Archivierung von Netzseiten durch die DNB verfolgt kein Konzept,
das eine Nutzung im Netz durch die Allgemeinheit vorsieht.

Sollte das HBZ auf die Idee kommen, die Serverinhalte auch intern zu
löschen, sei eindringlich darauf hingewiesen, dass eine vorherige
Anbietung an das Landesarchiv vom Archivgesetz NRW zwingend
vorgeschrieben wird. Ob die dortigen Kollegen die Mailinglisteninhalte
als archivwürdig bewerten, ist – ungeachtet meiner für die Archivierung
hier plädierenden – auch – archivfachlichen Stellungnahme alles andere
als ausgemacht.

Unabhängig von der Existenz solcher weiterer Kopien kommt ihre
(Präsenz-)Nutzung allenfalls für spezielle wissenschaftliche
Fragestellungen in Betracht.

Wer mit mir der Meinung ist, dass der gravierende Eingriff in die
wissenschaftliche Fachkommunikation rückgängig gemacht werden muss,
schreibt bitte rasch höflich formulierte Eingaben an die Direktorin des
HBZ, Frau Dr. Silke Schomburg (schomburg Klammeraffe hbz-nrw.de).


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.