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Re: [InetBib] Kulturunterschiede, Informatiker, individuelle Beduerfnisse



Hallo,

danke fuer deinen Beitrag!


[2018-09-26 15:56] Andreas Schieberle <gheed@xxxxxxxx>

ich finde das Thema, das du hier ansprichst sehr interessant und kenne
es selber aus meinem Berufsalltag und möchte deine Ausführungen gerne
noch um ein paar Punkte ergänzen.

Wenn jemand das Wort ``Informatiker'' in einem Satz mit
``Stellenausschreibung'' und ``Bibliothek/Archiv'' verwendet,
dann kommt jedesmal in einem der Folgesaetze die Aussage von
nicht genug Geld, das man bieten koenne.

Jedes Mal denke ich mir, dass das sicherlich so stimmt, und doch
auch gleichzeitig voll am eigentlichen Problem vorbei geht.

Bei vielen Stellenausschreibungen denke ich mir: Muss es denn wirklich
ein Informatiker sein?

Häufig wird mit Tätigkeiten, die z.B. mit dem Aufbau von IT-Systemen
in Zusammenhang stehen, assoziiert, dass man hierfür eine Person mit
einem Informatikstudium benötigt oder dass man im Allgemeinen mehr
Personen mit Informatikkenntnissen einstellen müsste, um "das mit der
Digitalisierung" hinzubekommen. Ich denke für die meisten Projekte
sind keine (reinen) Informatiker notwendig, sondern vielmehr
Bindestrich-Informatiker oder einfach Personen, die sich fachlich im
Arbeitsgebiet der Enduser, z.B. der Bibliothek oder dem Archiv,
auskennen und gleichzeitig grundlegende IT-Kennnisse besitzen und die
Sprache verstehen. Viele der heute verfügbaren IT-Systeme sind über
grafische Oberflächen konfigurierbar oder es gibt High-Level Tools, um
mit Daten zu arbeiten ohne über tiefgehende Kenntnisse in
Programmierung oder Software Entwicklung zu verfügen. Davon abgesehen
sind die meisten IT-Projekte im Kern doch
Organisationsentwicklungsprojekte bei denen die IT nur maximal 20% des
Workloads ausmacht und die meiste Arbeit in den Anforderungs- und
Prozessdefinitionen liegt.

Ueber (selbst fuer Informatiker) abschreckend hohe Anforderungen
in IT-Stellenausschreibungen habe ich auf dieser Liste in den
letzten Jahren mehrmals geschrieben. Ich denke, dass deine
Ausfuehrungen in eine aehnliche Richtung gehen.

Ich sehe aber auch, dass heute zumeist ``oder vergleichbare
Qualifikationen'' dabei steht. Das kann man recht frei
interpraetieren. Das oeffnet Tueren. Das finde ich gut.

Interessanterweise haben sich noch keine Bibliothekare oder
Archivare an mich gewendet, mit dem Wunsch, programmieren zu
lernen. Im Gegensatz dazu haben mich schon mehrere gefragt, wie
sie ein besseres Verstaendnis von IT-Systemen bekommen koennen,
weil ihnen das gefuehlt fehlt. Ich finde das gut und passend so,
denn programmieren muss man wirklich nicht zwangslaeufig koennen.
So schreibst du ja auch. Ein Verstaendnis von Computersystemen
ist dagegen in vielen Bereichen der Arbeit wertvoll. Dort kann
man als Nicht-Informatiker auch sinnvoller Wissen und Erfahrung
aufbauen.

Das lernt man allerdings nicht einfach mal kurz durch das Lesen
eines Buches oder durch der Teilnahme an einer Fortbildung ...
sondern muss schon etwas mehr investieren: neben einer laengeren
Beschaeftigung mit dem Thema, v.a. durch praktische Erfahrungen!

Ich faende es gut, wenn man ein groesseres Angebot
super-pragmatisch ausgerichteter IT-Kurse haette. Fuer mich sind
die Helden diejenigen, die ohne tiefgreifende IT-Kenntnisse
funktionierende Systeme (egal wie haarstraeubend sie fuer
``richtige'' Informatiker erscheinen moegen) realisieren, weil
die mit den ihnen zur Verfuegung stehenden Faehigkeiten und mit
der Hilfe von Computern reale Probleme loesen. Indem man
beispielsweise Excel, Access und Phpmyadmin zusammenbringt, kann
man schon eine Menge von Problemen loesen, ohne eine Zeile
programmiert zu haben. Auch mit XML-Editoren, Suchen-Ersetzen
oder mit Stackoverflow-Einzeilern kann man eine Menge Arbeit
erledigt bekommen ... ohne selber programmieren zu koennen.
Natuerlich, die grossen Produktivsysteme sollte dann besser doch
ein Informatiker bauen, aber fuer private oder interne Helferlein
oder fuer Prototypen reicht meist aus, was man sich mal so
zusammenstoepselt. Dabei haben die Pragmatikerloesungen einen
entscheidenden Vorteil: Sie loesen immer relevante Praxisprobleme,
und zwar die richtigen, weil sie von den Personen erstellt werden,
die das Problem selber haben.

Neben diesen praktischen Faehigkeiten (die auch Verstaendnis
und Erfahrung mit den Herausforderungen von Softwaresystemen
vermitteln) geht es IMO darum, strukturiertes Denken zu lernen.
Entscheidend sind Problemdestillation, Problemzerlegung,
Abstraktion, disziplinierte Gedankenwege, Klassifikation, etc.
Das ist das was man zumeist viel mehr braucht als stupide
Programmier-Roboter. Bei vielen Informatikern bekommt man
diese Softskills mit dazu, aber man braucht nicht zwangslaeufig
Informatiker um sie zu bekommen.

Diese Faehigkeiten und Erfahrungen sind auch fast alles was man
braucht, um Software-Entwicklung erfolgreich extern zu vergeben.



In erster Linie handelt es sich um einen tiefgreifenden
Kulturkonflikt, der, in meiner Erfahrung, nicht als solcher
erkannt und nicht aktiv angegangen wird. Man tut so, als
gaebe es ihn nicht.

Die Frage ist nun, wie kann man ein Bewusstsein dafür schaffen
und aktiv Veränderung bewirken.

Ein Beitrag von mir sind diese Mails auf dieser Liste. :-)
Damit hoffe ich mehr Bewusstsein zu schaffen.

Was das Veraendern angeht: Kulturelle Werte und
Verhaltensweisen sind halt tief verankert. Dort etwas zu
aendern ist besonders schwierig. Dazu kommen Strukturen in
die man eingebunden ist. Schnelle Veraenderungen sind also
kaum zu erwarten.

Entscheidend fuer mich ist eher, ob eine Einsicht zur
Notwendigkeit von Veraenderung vorhanden ist (auch wenn
einem die Haende grossteils gebunden sein moegen ... Wenn man
will, dann kann man an vielen Stellen auch Wege finden). Die
meisten werden einsehen, dass manches derzeit nicht oder nicht
so schnell moeglich ist, aber sie werden es weniger einsehen,
wenn ihre Probleme geleugnet oder unterdrueckt werden.

All das ist ja nichts Neues. Ich denke mir, es wird wohl einen
ganzen Wissenschaftszweig geben, der sich mit derartigen
Situationen und moeglichen Loesungswegen (halt auf anderen
Ebenen) befasst. Es sollten sich durchaus manche Erkenntnisse
uebertragen lassen.


Oder es zumindest für einen selbst erträglich machen.

Wohl wahr ...


markus


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.