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Re: Zukunft Buch Bibliothek Bibliothekare



Liebe Inetbibler,

die von Herrn Baumgärtel angesprochenen Entwicklungen im Bereich des
elektronischen Publizierens werden auch von Bibliothekaren durchaus
gesehen.
Es sind vor allen die folgenden Punkte, in denen die Entwicklung an
den Bibliotheken vorbei oder zu ihren Lasten verlaufen könnte (ich
hebe hier hauptsächlich auf Hochschulbibliotheken ab):

1. Es haben sich - bekannterweise - im Internet neue Formen und Foren
des elektronischen Publizierens etabliert, die fuer den Endnutzer de
facto kostenfrei sind - ohne dass ich mich "an der Fiktion von
Kostensenkung durch Datentechnik entlangzuschreiben" brauche. Hier
sind vor allem Preprints und Reports zu nennen (Groessenordnung: ca.
100.000). Vorzeigebeispiele sind hier noch immer die Preprint-Archive
der Hochenergiephysik, in denen fast alle spaeter in gedruckten
Zeitschriften publizierten Artikel dieses Gebiets erscheinen. Die
Notwendigkeit von Bibliotheken, die diese Zeitschriften finanzieren,
ist hier schon nicht mehr in der Bereitstellung der Information als
solcher begruendet, sondern in erster Linie in bestehenden
wissenschaftlichen Konventionen, die die Zitierpraxis und die
Anerkennung der Publikation betreffen und sich langfristig
durchaus aendern koennen. - Kostenfrei zugreifbare Zeitschriften
spielen bis jetzt quantitiv eine eher untergeordnete Rolle. Die Zahl
derjenigen mit hohen wissenschaftlichen Qualitaetsanspruechen hatte
ich im vergangenen Jahr vorsichtig auf etwa 30 geschaetzt. Es ist
aber doch schon bemerkenswert, dass es solche Zeitschriften
(z.B. Documenta Mathematica, Mathematical Physics Electronic
Journal) ueberhaupt gibt!
Zwei Eindruecke betreffen die Entwicklung des verangenen Jahres:
- Das Publikationsmodell "Preprints" hat trotz eines Wachstums nicht
  in dem Tempo zugenommen und zusaetzliche Bereiche erfasst, wie man
  es vielleicht haette erwarten koennen.
- Die Rolle der Verlage als "Ordnungsfaktoren" und Relevanzfilter sind
  wieder etwas mehr ins Blickfeld gerueckt.
Dies bedeutet aber keinen Stillstand, da die Diskrepanz zwischen
"Produktion" von Forschungsergebnissen und der Kapazitaet des
verlegerischen Distributionssystems wissenschaftlicher Zeitschriften
fortbesteht und zunehmen wird. Mit "Kapazitaet" ist natuerlich nicht
eine technische Kapazitaet gemeint, sondern die Kapazitaet des Marktes
unter den Randbedingungen stagnierender Bibliotheksetas.

2. Es gibt eine Tendenz, dass Fakultaeten Nutzungsvertraege mit
Online-Anbietern selbst abschliessen und die Mittel dafuer von den
Bibliotheken bekommen moechten (Stichwort: Beilstein). Aus der
Fachbereichskonferenz der Gesellschaft Deutscher Chemiker erfaehrt
man, dass es mit den Beziehungen zwischen Fakultaeten und
Bibliotheken nicht ueberall zum besten steht. Natuerlich geht es
dabei auch um finanzielle Fragen. - Der Druck auf die
Bibliotheksetats wird sich im Zuge der Globalhaushalte verschaerfen,
wenn wegen der Stornierung wissenschaftlicher Zeitschriften an den
Hochschulorten laengerfristig immer hoehere nutzungsabhaengige
Kosten fuer Literaturbeschaffungsmassnahmen - auch fuer
entgeltpflichtige Internet-Publikationen! - (insbesondere
Aufsatzbestellungen) auf die Fakultaeten bzw. Fakultaetsmitglieder
zukommen.

3. Eine Erschliessung elektronischer Internet-Informationsquellen
durch Bibliotheken wird dort, wo sie geleistet wird, sicher mit
Wohlwollen und Zustimmung rechnen koennen. Doch liesse sich damit
allein sicher nicht die Existenzberechtigung von Bibliotheken in
einer  "buecherfreien Welt" - die wirklich nur hypothetisch gemeint
ist - ableiten. Unter den fachuebergreifenden, oeffentlich
zugaenglichen "Verzeichnissen" sind bibliothekarische Produkte wie
BUBL (UK) oder INFOMINE (Univ. of California at Riverside) bisher
aber eher die Ausnahme.


Leider stossen Ausfuehrungen wie diese bei Bibliothekaren nicht nur
auf Gegenliebe. In einem Beitrag der Festschrift fuer Herrn Adams
("Impulse fuer Bibliotheken" - Veroeffentlichungen der
Universitaetsbibliothek Essen ; 19) haben Herr Dr. Neubauer und ich
auf einem ähnlichen Hintergrund Zukunftsperspektiven der
Bibliotheken aufgezeigt, wobei sogar versucht wurde, einer damals
verbreiteten Internet-Euphorie unter Bibliothekaren (Goettinger
Bibliothekartag!) etwas entgegenzusteuern. In einer Rezension der
Festschrift in ProLibris 1/97 S. 52 von Herrn Dr. Uwe Jochum wurden
die Ausfuehrungen aber als Drohung(!) (von Bibliothekaren an
Bibliothekare) qualifiziert - dazu noch als eine unberechtigte, u.a.
weil eingeraeumt wurde, dass "eine Reihe konzeptioneller Fragen noch
geklaert werden muesse". Sollen/duerfen Bibliothekare in einer Zeit
des Umbruchs aber erst mit dem Nachdenken beginnen, wenn alle
konzeptioellen Fragen geklaert sind, und sie dann nur noch auf die
Konzepte der uebrigen Player im Bereich des elektronischen
Publizierens reagieren koennen? - Der in Rede stehende Rollenverlust
der Bibliotheken wird als Mißverstaendnis der Autoren abgetan, die
"Kommunizieren (mit Brief, Telefon oder Email) mit dem Eigentlichen
von wissenschaftlicher Arbeit verwechsel(n)". (Haette ich dies
doch schon gewusst, als ich 1993 im Bibliotheksdienst - 27(1993), S.
1883-1905 - einen Artikel ueber neue Formen elektronischen
Publizierens im Internet vorbereitete!)

Wie sollen sich Bibliotheken und Bibliothekare am besten in dieser
Situation verhalten, wie die Prioritaeten setzen? Ich denke, der
Bericht der SUBITO.2-Arbeitsgruppe, der hoffentlich in Baelde
vorliegen wird, wird diesseits aller Zukunftsszenarien dazu einiges
sagen koennen.

                                    Wolfgang Binder


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