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Weg mit den Büchern



wurde mir zugespielt - ob es tatsächlich so erschienen ist, habe ich
nicht verifiziert - R. Kuhlen

© Tages-Anzeiger; 2002-04-29; Seite 4

Ausland

Weg mit den Büchern
«Wer Computer hat, braucht keine Bücher», verfügte eine Universität in
der Türkei - und liess die Bibliotheken ausräumen.

Von Christiane Schlötzer,Istanbul 

Es war eine Szene wie in einem schlechten Sciencefictionfilm. Die Männer
hatten Walkie-Talkies dabei, liefen hektisch über die Gänge und brüllten
Befehle: «Alle Bücher müssen weg!» Und dann wurde alles in Pappkisten
geräumt und wurde weggefahren: 219 982 Bücher, darunter 400 Jahre alte
wertvollste Stücke. Professoren rangen um Fassung. «Manche haben
geweint», erzählt eine Dozentin der renommierten Istanbul Universität.
Tage nach dem Raub ihrer kompletten Bibliotheken sind Studenten und
Professoren der Fakultät für Geisteswissenschaften noch immer wütend und
geschockt. Und sie fühlen sich hilflos. Denn kein Räuber hat sich
bedient. Rektor Kemal Alemdaroglu hat es so verfügt - im Namen des
«Fortschritts».
Computer sollen die Bücher ersetzen, Scanner das Wissen digitalisieren.
Wer unbedingt noch ein Buch braucht, soll es mit einem elektronischen
Wegweiser wiederfinden und aus einem Keller heraufholen dürfen. Die
Datenbank ist Zukunftsmusik. Gegenwart aber ist die handstreichartige
Auflösung aller 16 geisteswissenschaftlichen Seminarbibliotheken.
Betroffen sind neben Literatur, Geschichte und Philosophie auch
Archäologie, Psychologie sowie alte und neue Sprachen. «Wie kann eine
Fakultät mit Schachteln im Keller arbeiten?», fragte Ilber Ortayli,
einer der angesehensten Historiker der Türkei. Ein Unterricht in den
klassischen Sprachen ohne Seminarbibliotheken sei «schlicht nicht
vorstellbar».
Allein das Seminar für Philosophie besass etwa 12 000 Bücher, darunter
eine wertvolle Nietzsche-Kollektion. Der besondere Buch-Reichtum rührt
auch aus der Geschichte der von Staatsgründer Atatürk geschaffenen
Hochschule, der heute grössten des Landes. Sie knüpfte an die erste
grosse osmanische Hochschule Dar'ül Fünun an. Während der Nazi-Zeit in
Deutschland retteten sich zahlreiche deutsche Wissenschaftler in die
Türkei. Viele fanden in Istanbul Aufnahme, und mancher brachte seine
Bücher mit. 
Politisierung und Einschüchterung 
Rektor Alemdaroglu, ein Chirurg, ist nicht erst seit der Buch-Aktion
umstritten. Er wittert gern überall politische Feinde gegen seine
Interpretation der türkisch-kemalistischen Staatsdoktrin. Professoren
klagen über Politisierung und sinkendes Niveau der Hochschule. Ein
Dozent, der für den Industriellenverband Tüsiad einen
«Demokratiebericht» schrieb, im dem Defizite aufgelistet werden, wurde
vom Rektor abgekanzelt. Viele Lehrkräfte verliessen bereits die Uni,
andere berichten von einem Klima der Einschüchterung. «Wir wollen unsere
Bücher wieder», skandierten Studenten und verlangten den Rücktritt des
Rektors, bewacht von nervösen Polizisten. «Alte Bücher als veraltet zu
betrachten», wie Alemdaroglu dies tue, sei für die
Altertumswissenschaften «doch geradezu absurd», sagt ein Dozent.
Alemdaroglu argumentiert, Universitäten in der ganzen Welt würden ihre
«Präsenzbibliotheken» abschaffen und nur noch Zentralarchive pflegen.
Diskutieren lässt der Mann mit sich nicht.
«In welchem Programm hätte Kant wohl seine Kritik der reinen Vernunft
geschrieben?», fragt computer-ketzerisch der Philosoph Oruc Aruoba, der
stolz ist, keinen Internetanschlusss zu haben. So puristisch sind die
meisten Professoren der Istanbul Universität nicht. Sie wollen nur
wieder unterrichten können.


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.