[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

Re: Meininger Handschriften bei Reiss - Adelsbibliotheken v. Krassow und aus Franken



Am 5.9.2001 schrieb ich in INETBIB:

http://www.ub.uni-dortmund.de/Listenarchive/INETBIB/200109/20010905.html#0

> Der Vorschau
> 
> http://www.reiss-sohn.de/
> 
> ist zu entnehmen:
> 
> "23.Oktober, Vormittagssitzung: Handschriften aus der Herzogl.
> Bibliothek
> Sachsen-Meiningen und
>       aus anderem Besitz, Musik (aus 2 alten Sammlungen), Alte Drucke
> (darunter eine alte Sammlung
>       italienische Bücher d. 16. Jahrhunderts),  Nachmittagssitzung:
> Medizin, Naturwissenschaften,
>       Botanik, Zoologie.
> 
>       24. Oktober, Vormittagssitzung: Varia ? Illustrata, Recht ?
> Wirtschaft ? Geschichte, Deutsche
>       Topographie; Nachmittagssitzung: Bayern und Franken (vornehmlich
> aus einer Adelsbibliothek),
>       Atlanten, Geographie, Reisen"
> 
> Hat jemand Informationen ueber die Meininger Handschriften oder die
> Adelsbibliothek?

Inzwischen ist der Katalog von Auktion 80 online verfuegbar.

In der Pressemitteilung heisst es:

"Mehr als 100 Positionen des Normalkataloges mit wertvollen Büchern,
Handschriften und Graphik aus verschiedenem Besitz
       entstammen der Herzoglichen Bibliothek Sachsen-Meiningen,
darunter seltene Musikdrucke und über 50 Handschriften, denen
       ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Teuerstes Buch aus der
Herzoglichem Sammlung ist eine Perlschriftbibel des 13. Jahrhunderts
       aus dem Vorbesitz des württembergischen Rates und Kartographen
Christoph Gadner mit dessen wohl eigenhändigen
       Anmerkungen zur Herkunft der Handschrift (40.000)."

Nr. 318 (ein Bechstein-Autograph) bis 369 stammen aus der Herzoglichen
_Oeffentlichen_ Bibliothek Meiningen (so die korrekte Bezeichnung),
darunter auch die mittelalterliche Handschrift Nr. 320, zu deren
Provenienz ausgefuehrt wird:

"Bemerkenswert sind die beiden wohl beim Neubinden hinzugefügten
Pergamentbll. am Beginn der Handschrift: Das
       erste Blatt trägt recto den oben zitierten Titel, darunter den
Vermerk "Manuscripta, ab Ernesto, Secundo Priore in
       Reichenbach. Anno Christi MLXXXV (!)". Dieser offensichtlich
fingierte Herkunftsnachweis wird auf der Rückseite
       weiter ausgeführt: Das angeblich 1085 im Schwarzwälder Kloster
Reichenbach (gemeint ist wohl das berühmte
       Skriptorium des Klosters Reichenau, das Benediktinerkloster
Reichenbach wurde erst 1118 gegründet) entstandene
       Manuskript sei am 30. Juni 1598 von drei namentlich genannten
Klosterbrüdern dem württembergischen Rat Georg
       Gadner, Schreiber dieser Zeilen, übergeben worden. Gadner
(1522-1605; vgl. NDB VI, 13 f. u. Meurer, Fontes
       Cartographici 148), zunächst als Jurist und Gesandter für den
bayerischen Hof tätig, wurde nach seiner
       Konvertierung zum reformierten Glauben Rentkammerprokurator und
Oberrat in Diensten von Herzog Christoph v.
       Württemberg. Bleibende Bedeutung erlangte er durch seine
kartographischen Arbeiten, insbesondere den
       Manuskriptatlas "Chorographia Ducatus Wirtembergici" (1596), der
ein Jahrhundert lang das Kartenbild des
       Herzogtums bestimmte. Zudem war er auch als Historiograph für den
Stuttgarter Hof tätig, 1598 vollendete er eine
       handschriftliche Geschichte der württembergischen Herzöge. Nach
dem "Herkunftsnachweis" ist noch eine schöne
       Miniatur eingefügt, die die Schöpfungszene mit Adam und Eva im
Paradies zeigt."

Hier wird wieder einmal ein undokumentierter Handschriftenbestand
zerschlagen, der als historische Quelle zur Regionalgeschichte von
Bibliothekaren vor allem des 19. Jahrhunderts zusammengetragen wurde
bzw. aus den Sammlungen des herzoglichen Hauses erwachsen ist.

Illustriert werden kann der landesgeschichtliche Bezug z.B. mit Nr. 344:

"Landschullehrer-Seminar in Meiningen. - Sammelband mit Handschriften
und gedruckten Belegen zur Entstehung des
Landschullehrer-Seminars in Meiningen. Meiningen 1778 f. 4to. Hldr. d.
Zt. mit etwas Blindpr. 

Inv. Hdschr. 17. - Enthält: 

       1. E. J. Walch. Geschichte des Landschullehrer Seminarii zu
Meiningen. Ibid. 1793. 1 Bl., 29 S. - 2. Kurze Nachricht
       von dem Schulmeister Seminar zu Meiningen. Ibid. 14 S. - 3.
Verzeichnis der Mitglieder des Landschullehrer Seminarii
       vom 14. October 1776 an bis Michaelis 1792, als binnen welcher
Zeit ich (E. J. Walch) Lehrer desselben war. Ibid.
       1793. 59 S. - Beigebunden noch weitere diesbezügliche
Druckschriften und Manuskripte. "

Es handelt sich bei den Meininger Hss. und gedruckten Buechern um
Restbestaende aus dem Staatsarchiv Meiningen, die im Zuge der
unsaeglichen guetlichen Einigung anno 2001 mit dem Fuerstenhaus
zurueckgegeben werden mussten. Von etwa einem Dutzend Hss. wurden
Mikrofilme auf Kosten des Herzoglichen Hauses fuer das Staatsarchiv
angefertigt (Liste liegt mir nicht vor) - diese wohl an sehr
traditionellen archivischen Vorstellungen orientierte kleine Auswahl
duerfte laengst nicht hinreichend sein, um die fuer die Landes- und
Bibliotheksgeschichte bedeutsamen Stuecke zu dokumentieren.

Ob unter den bei Reiss versteigerten Buechern auch solche aus Georgien
waren, die via SB zu Berlin direkt dem Haus zurueckgegeben wurden?
Angeblich soll es nur "Schrott" gewesen sein, franzoesische Romane des
18. Jh. und Unterhaltungsromane des 19. Jh. Eine solche Einschaetzung
scheint typisch fuer eine Denkweise, die eine Adelsbibliothek nicht als
Geschichtsquelle ernstnehmen will.

Da es keinen gedruckten Meininger Hss.-Katalog gibt und die
entsprechenden Findmittel sich in den Nachfolgestaaten der UdSSR
befinden duerften, ist die Reiss-Katalogisierung die einzig greifbare
Erschliessung des Meininger Restbestands, denn bei der vom Staatsarchiv
erstellten Liste, die Teil der guetlichen Einigung geworden ist, handelt
es sich um ein Thueringer "Staatsgeheimnis", ueber dessen Herausgabe die
Ministerin Schipanski im Einvernehmen mit dem Eigentumer befindet.

In Meiningen selbst fuehlt sich niemand fuer die ehemalige Oeffentliche
Bibliothek so richtig zustaendig. Die Stadt- und Kreisbibliothek
Anna-Seghers ist als oeffentliche Bibliothek ohne wissenschaftlichen
Anspruch an der Provenienzgeschichte naturgemaess desinteressiert. Fuer
die Bibliothek der Meininger Museen wird vom Museumsdirektor telefonisch
behauptet, kein Stueck der Oeffentlichen Bibliothek zu besitzen, obwohl
im "Handbuch der Historischen Buchbestaende" S. 242 ueber die Schenkung
von drei Stuecken mit der Provenienz Herzogliche Oeffentliche Bibliothek
berichtet wird (S. 242). Das Staatsarchiv ist froh, dass die guetliche
Einigung die in die Dienstbibliothek eingearbeiteten Bestaende der HOeB
diesem belassen hat. Fuer Bibliotheksgeschichte fehlt hier der Sinn.

Halten wir ruhig fest, dass auch ein bitterarmes Land wie Thueringen die
Moeglichkeit gehabt haette, fuer eine ausreichende Dokumentation der nun
in alle Winde zerstreuten Bestaende zu sorgen, wenn es schon nicht
moeglich war, die Hss. anzukaufen. Die Weise, wie hier eine traditionell
oeffentliche Bibliothek, die als Landesbibliothek von Sachsen-Meiningen
fungierte, ex post privatisiert wurde und wie der Thueringer Staat den
Alteigentuemern huldigt, moechte ich skandaloes nennen. Die
wissenschaftliche Forschung bleibt einmal mehr auf der Strecke.

--

Bestaende von zwei weiteren Adelsbibliotheken kommen gleichfalls bei
Auktion unter den Hammer. Ich zitiere die Pressemitteilung:

"Aus einer pommerschen sowie einer süddeutschen Adelsbibliothek stammen
etwa 500 Positionen zur deutschen Geschichte
       und Topographie. Carl von Krassows auf 1714 datierte und in
Schwerin abgefasste Abschrift von Leonhard Christoph Sturms
       "Architektonischen Reiseanmerkungen" entstand noch vor
Drucklegung des Originalwerkes im Jahre 1719 und ist mit
       reizvollen, lavierten Federzeichnungen illustriert (4.000).
Ebenfalls 4.000 Mark sollen v. Neumanns "Schlösser des bayer.
       Rheinkreises", Zweibrücken 1836-38 mit 59 Ansichten einspielen."

Bei der pommerschen Bibliothek handelt es sich um die Bibliothek derer
von Krassow (wohl die Gutsbibliothek von Kivitz bei Barth). Die UB
Greifswald konnte zu diesem Bestand keine (telefonische) Auskunft
erteilen. Mit Sicherheit handelt es sich nicht um einen in den letzten
Jahren zurueckgegebenen Sonderbestand dieser Bibliothek. Die
Suchmaschine von Reiss erbringt zu Krassow-Divitz 98 Treffer. 

In der Pressemitteilung wurde Nr. 430 herausgegriffen:

"Sturm, L. C. - Krassow, C. v. Kurtze Beschreibung einer Tour durch
Holland nach Franckreich von Braunschweig so ich
       von einem guten Freund zu copieren bekommen. Deutsche Handschrift
auf Papier. Schwerin, Mai 1714. 4to. Blattgr.:
       231:151 mm. Geschrieben mit bräunlicher Tinte in sauberer
deutscher Kursive. Mit 13 (2 doppelblattgr.) gefalt. Tafeln und
       ca. 104 (etliche blattgr.) Textillustrationen, alles in feiner
lavierter Federzeichnung. 72 Bll. Ldr. d. Zt. mit reicher
       Rückenverg. sowie goldgepr. Wappensupralibros der v. Krassows auf
beiden Deckeln. 

Offenbar nach dem Originalmanuskript von Leonhard Christoph Sturm
kopierte Fassung seiner bekannten, erst
       1719 gedruckten "Durch einen Theil von Teutschland und den
Niederlanden biß nach Paris gemachete
       architectonische Reise-Anmerckungen." Sturm hatte die
Studienreisen 1697-1699 unternommen. Am 27. März 1711
       ging er als Baudirector nach Schwerin in die Dienste des Herzogs
Friedrich Wilhelm von Mecklenburg. Wahrscheinlich
       ist er dort C. von Krassow begegnet, wenn nicht bereits vorher in
Berlin. 

[...]  Die Bibliothek von Krassow-(Divitz) verfügte über einen großen
Buchbestand, aus der ein kleiner Teil in dieser Auktion zur
Versteigerung kommt."

Es waere dringend zu wuenschen, dass oeffentliche Institutionen aus
Mecklenburg-Vorpommern Baende dieser Provenienz (insbesondere solche mit
Wappensupralibros) als Zeugnis der regionalen Bibliotheksgeschichte
erwerben. Aber die uebliche Ausrede der UB Greifswald, man sei nur fuer
Pomerania, nicht aber fuer Stuecke mit einer solchen Provenienz
zustaendig, laesst wieder einmal das Schlimmste hoffen. 

--

Einen klaren Hinweis, welche Adelsbibliothek die meisten Titel der
Gruppe  "XII. Bayern und Franken Nr./Lot 1944-2156" zugrundeliegt,
liefert der Katalog nicht. Aber als provisorische Hypothese erscheint
aufgrund der Nr. 409, 1324 und 2096 zulaessig, die Bibliothek der
Bamberger Adelsfamilie von Schrottenberg dahinter zu vermuten. Die in
Reichmannsdorf ansaessige Familie kaempft dem Vernehmen nach mit
gravierenden finanziellen Problemen.

--

Ceterum censeo: Wer eine Adelsbibliothek undokumentiert versteigern
laesst, vernichtet eine Geschichtsquelle. Er handelt genauso wie
derjenige, der einen archaeologischen Befund undokumentiert zerstoeren
laesst. Es ist ein barbarischer und niedertraechtiger Akt, der durch die
wohlwollende Ignoranz der mit dem Schutz des kulturellen Erbes betrauten
oeffentlichen Stellen ermoeglicht wird.

Klaus Graf
http://www.uni-kobklenz.de/~graf/#kulturgut


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.