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Re: Bibliothekare und Bertolt Brecht zur RSR



Sehr geehrter Herr Storck,

Sie haben Recht:
"technische Notbehelfe oder technische Unzulaenglichkeiten
muessen nicht mutwillig und ohne Not zum entscheidenden Kriterium des
allgemeinen Sprachgebrauchs gemacht werden. Oder?",

das ist aber nicht geschehen. Es war historisch betrachtet eindeutig umgekehrt.
Die "Notbehelfe" haben sich über Jahrzehnte etabliert und wurden dann teilweise sanktioniert,
teilweise sogar systematisiert, so dass es auch zu Reformen kam, die noch nicht etabliert waren.
Die durchgehende Groß- bzw. Kleinschreibung, die wir aus Datenbanken seit Jahrzehnten kennen,
hat sich inzwischen in so mancher E-mail fortgesetzt, fand aber interessanterweise bisher keine breite Öffentlichkeit.
Bemerkenswert ist, dass auch das ae, oe oder ue von einigen Autoren wie selbstverständlich verwendet wird,
obwohl es auch nicht Gegenstand der RSR ist. Diese Schreibweisen werden wohl wirklich als Notbehelf angesehen.


Die Frage, welche Auswirkungen die RSR auf das Bibliothekswesen, also für Inetbib-Teilnehmer, hat,
war eigentlich mal der Grund, warum wir diese Diskussion führen, und insofern ist in diesem Zusammenhang
auch darauf hinzuweisen, dass die Rechtschreibung des Duden auf das Verhalten von E-mail-Schreibern
weiterhin vergleichsweise wenig Einfluss hat.


Über die RSR zu diskutieren ist wichtig - solange man Gegenargumente ernst nimmt, und nicht einfach behauptet, sie seien nicht substantiell. Warum das Sprachgefühl von Herrn Eversberg das Wort "beinhalten" verletzt,
vermag ich nicht nachzuvollziehen. Die etwas verrutschten Anführungsstriche bitte ich um so mehr zu entschuldigen.


Wie das geradezu zwangsläufig bei Normierungen ist, entschloss man sich zur RSR erst dann, als zunehmend erkennbar wurde,
dass man die "Notbehelfe" wieder Rückgängig machen könnte. Nun sind die einen progressiv im Rückgängig machen
und die anderen im etablieren. Schwierig ist es bei Autoren, die beides gleichzeitig tun, weil sie durchaus erkannt haben,
dass manche dieser Entwicklungen gut sind, andere aber nicht.
Wer die Mehrheit hat, ist kaum zu entscheiden. Es ist ein dynamischer Prozess,
und die Beweggründe, der RSR zu folgen (oder sie abzulehnen), wechseln.
Hinzu kommt das Problem der Globalisierung von Sprache im Internet.
Darum meinte ich, dass es darauf ankäme evolutionäre Trends von Modeerscheinungen und Irrwegen zu unterscheiden.


Ihre Behauptung, das alles sei nur eine "Vergewaltigung des Sprachgebrauchs durch namenlose Fachidioten"
und es sei eine "Luege ", dass es sich hier um "eine natuerliche - quasi evolutionaere und notwendige - Entwicklung"
handle, ist schon recht starker Tobak. Wenn es stimmt - die "Studenten machten nach der Rechtschreibreform
genauso viele Fehler wie vorher." - würde zumindest die Behauptung, es gäbe eine Verschlimmerung, nicht stimmen.
Warum also dann diese geradezu beleidigende Diktion?


Ansonsten erinnere ich mich noch an die harte Auseinandersetzung darüber, dass die RSR nicht dazu führen dürfe,
dass man die guten Schüler von den schlechten nicht mehr unterscheiden könne.
Das hatte ich aber bei unserem Ausbildungssystem auch nie erwartet. Insofern kreuzen sich bei der RSR höchst
unterschiedliche Interessen - was ein weiterer Beleg dafür ist, dass das Problem nicht in Richtung
der persönlichen Interessen einer kleinen Minderheit übersimplifiziert werden darf.
Nur weil die einen Interessenvertreter ihre Meinungsgegner lauter zu diskreditieren versuchen, sind sie weder im Recht,
noch bilden sie die Meinungsmehrheit.


Übrigens gibt es ein bibliothekarisch weitaus eindrucksvolleres ähnliches Beispiel, die RAK.
Sie wurden zur Automatisierung der Kataloge eingeführt weil man damals die PI-Regeln
keinem Computer hätte zumuten können. In gewisser Hinsicht, war das auch eine "Notlösung".
Heute wäre es durchaus bedenkenswert, die Computer PI-fähig zu machen.
Trotzdem wollen interessanterweise nur sehr wenige Bibliothekare diese Entwicklung zurückdrehen.


An diesem Beispiel können Sie erkennen, dass das was wir hier erleben durchaus evolutionär ist. Sie schreiben: "Sie wollen doch nicht etwa behaupten, die Rechtschreibreform, ein
obrigkeitsstaatlicher Erlass sei evolutionaer? Die Rechtschreibreform
gleicht viel eher einer Revolution, sie ist ein willkuerlicher,
gewalttaetiger und ploetzlicher Umbruch, der den Deutschen aufgezwungen
wurde, ohne jede wirklich entscheidungsrelevante Einflussmoeglichkeit
durch die Betroffenen."
Die Evolution kennt zahlreiche "willkuerliche", "gewalttaetige" oder auch scheinbar "ploetzliche" Umbrüche.
Sie gehören zu dem was man gern als "survival of the fittest" bezeichnet.
Es führt hier allerdings zu weit, darauf einzugehen, dass das "survival of the fittest"
nicht von Darwin sondern von Spencer stammt, dass die "fittnes" sehr unterschiedlich sein kann,
und mit der eigentlichen Evolutionsstrategie nur wenig zu tun hat.
Sicher ist aber, dass auch "Gesetzgeber" der Evolution unterliegen.
Und genau darum geht es mir, zu erkennen, wie die Evolutionsstrategie funktioniert,
zu der auch die Evolution des menschlichen Geistes gehört - so wie sie sich im Bibliothekswesen analysieren lässt.
Der Science Citation Index ist dafür ein höchst interessantes Instrument - aber auch ein gefährliches.


Sie sagen zwar richtig, dass die Evolution "ein natuerlicher, nicht von Subjekten kontrollierter Prozess" ist,
dass die Wissenschaft aber dahinter eine höchst komplexe "Evolutionsstrategie" erkannt hat, ist entscheidend.
Bei dieser Erkenntnis hat Darwin und Wallace, fußend auf einer Beobachtung von Malthus, den ersten Schritt getan.
Seitdem haben wir viel dazugelernt, über die Raffinesse eines ausgewogenen Verhältnisses von
Gen-, Genom- und Chromosomenmutation, über das Processing von DNS und RNS, mit ihren unglaublichen Mengen
an Information und Redundanz, die in Millionen von Jahren gesammelt, gekreuzt und gefiltert worden sind,
mit den enzymatischen und hormonellen Homöostasen, den Eigenfrequenzen von Proteinen etc.
Wenn man dazu die Biogenetische Grundregel Häckels nimmt, gelange ich zu der höchst beeindruckenden
Biogenetischen Evolutionsstrategie, aus der das Wissen der Lebewesen über ihre Umwelt entstanden ist.


Wir sollten also Evolution nicht zu trivial, als einfaches Versuch und Irrtum-System sehen, wie das oft geschieht,
sondern wirklich als eine Strategie, die zu Wissen, zum menschlichen Bewusstsein und auch zu unserer Sprache geführt hat.
Das Sprache und Bewusstsein beim Menschen phylogenetisch sozusagen gleichzeitig in Erscheinung traten, ist im Zusammenhang mit den
vor wenigen Jahren entdeckten Spiegelneuronen besonders interessant.
Der Evolution der Sprache, und der des menschlichen Wissens, soweit beide in Bibliotheken analysierbar sind,
sollte daher unser Interesse gelten, darauf zielte mein Hinweis auf Darwin. Soweit ich mich erinnere war es Harnack,
der die Meinung vertrat, dass dem Bibliothekswesen ein Darwin fehlt, und ich denke, dass dieses Desiderat somit längst überfällig ist.
Dazu fehlt uns aber auch eine "kritische Masse" an Fachleuten, die einen solchen Darwin des Bibliothekswesens verstehen.


In diesem Zusammenhang ist die RSR nur eine Marginalie, und ihre Bedeutung sollte nicht überschätzt werden,
weil damit nur offenbar wird, dass die eigentliche Problematik unterschätzt wird.


Wenn die RSR wirklich rückgängig gemacht werden sollte, laden viele das andere Rechtschreibprogramm,
der Duden verkauft sich noch einmal spitzenmäßig, die Verwirrung steigt weiter,
ein Teil der Gegner der Rückgängigmachung wird nun auf der anderen Seite rebellieren,
und der Streit spitzt sich solange zu, bis sich im Sinne der Megatrends von Naisbit,
eine allgemeine Gleichgültigkeit bei der Rechtschreibung ausbreitet. Wenn diese wieder überwunden ist,
schreitet die Evolution um so rasanter voran.


Bedenkt man, dass Literatur und Wissenschaft mal lateinisch, dann stark französisch,
teilweise auch deutsch und in den letzten Jahrzehnten vorwiegend englisch geprägt war,
dann diskutieren wir wirklich eine Nebensächlichkeit neben der Frage, welche Sprache die Wissenschaft in absehbarer Zukunft haben wird. Auch das ist ein Teil dieser Evolution.



MfG


Walther Umstätter


Bernd Storck wrote:


Sehr geehrter Herr Umstaetter, liebe Listenleser.

Herr Umstaetter meinte am 26.07.04 um 11:40 Uhr:



[ Bernhard Eversberg schrieb: ]





On 25 Jul 04, at 18:50, Kay Heiligenhaus wrote:





schade, dass es mit der "Aktion" gegen die RSR nichts geworden
ist. Ich zumindest fand die Diskussion hier recht interessant.





Das fanden viele, und etliche ermutigten mich, auf jeden Fall
etwas zu unternehmen, zumal es ja gar keine substantiellen
Gegenargumente oder -vorschlaege gibt. Das soll deshalb
geschehen. Es ist noch nicht zu spaet, Unterschriften zu senden!

[...]






Sehr geehrter Kollege Eversberg,

[...]

Ich bin wirklich erstaunt, dass gerade Sie diese trotz ihrer
Jahrelangen Erfahrungen im Bibliotheks- und Dokumentationswesen
nicht sehen. Wir haben doch gerade im Computerbereich viele
dieser Veraenderungen laengst vorweggenommen bevor es zu einer RSR
kam. Unter anderem benutzten wir jahrelang statt ss das ss, weil
es gar nicht anders ging. Natuerlich geht das inzwischen.



Eben. Und technische Notbehelfe oder technische Unzulaenglichkeiten muessen nicht mutwillig und ohne Not zum entscheidenden Kriterium des allgemeinen Sprachgebrauchs gemacht werden. Oder?




Aber nun so zu tun, als haette es diese Zeit nicht gegeben und als
haetten die damals modernen Bibliotheken das alles nicht
mitgemacht (oder auch nur drunter gelitten), ist
Geschichtsklitterung. Und es erzeugt schon wieder den fatalen
Eindruck, als kaemen die Bibliotheken in ihrer Entwicklung
hinterher, wo sie so manchem anderen Bereich weit voraus waren.





Sprache muss auch und gerade im Interesse der Bibliotheken
weiterentwickelt werden. Sie hat eine Evolution, und sie braucht
keine Revolution im Sinne dessen, dass wir das Rad der Geschichte
wieder zurueckdrehen.



Sie wollen doch nicht etwa behaupten, die Rechtschreibreform, ein obrigkeitsstaatlicher Erlass sei evolutionaer? Die Rechtschreibreform gleicht viel eher einer Revolution, sie ist ein willkuerlicher, gewalttaetiger und ploetzlicher Umbruch, der den Deutschen aufgezwungen wurde, ohne jede wirklich entscheidungsrelevante Einflussmoeglichkeit durch die Betroffenen.




Wir brauchen einen Darwin des Bibliothekswesens und eine
Evolutionsstrategie der geistigen und sprachlichen Entwicklung
und keinen Cuvier mit einer neuen Kataklysmentheorie.



Die Evolution ist ein natuerlicher, nicht von Subjekten kontrollierter Prozess, insofern scheint mir der Ausdruck "Evolutionsstrategie", d. h. eine kuenstliche Verbindung der Begriffe "Evolution" und "Strategie" fragwuerdig. Darwin hat etwas Natuerliches durch seine Theorie zu beschreiben versucht; aber nicht der Natur vorgeschrieben, was natuerlich ist, also nicht die Natur faschistisch regiert. Auch die autoritaere Rechtschreibreform genannte Vergewaltigung des Sprachgebrauchs durch namenlose Fachidioten, wird doch mit der Luege bemaentelt, die willkuerlichen Ansichten von ein paar Fachleuten verwirklichten nur eine natuerliche - quasi evolutionaere und
notwendige - Entwicklung. Dem ist nicht so, der Rechtschreibreform genannte obrigkeitsstaatliche Erlass ist eine willkuerliche Sprachklitterung. Als Zweck und Legitimation dieser fachidiotischen Veraenderungen aus einem abgelegenen Germanistenzirkel wurde in der *nachtraeglichen* oeffentlichen Propaganda meines Wissens vor allem angefuehrt, dass die neuen Schreibweisen Abc-Schuetzen und Grundschuelern den Erwerb der Schreibkonventionen erleichtere. Wie
man vierlerorts lesen und hoeren kann, ist dies nicht eingetreten. Beispielsweise aeusserte Wolf Schneider, der immerhin an fuenf Journalistenschulen unterrichtet, danach gefragt, kuerzlich
in einer Fernsehdiskussion, seine Studenten machten nach der Rechtschreibreform genauso viele Fehler wie vorher.




Menschen, die sich auf das Wissen ueber Bibliotheken spezialisiert
haben, also Bibliothekswissenschaftler, muessen genauer zwischen
Trends, Modeerscheinungen und Irrwegen auf diesem Gebiet
unterscheiden als Laien, und gerade bei der Sprache gibt es
unzaehlige Irrwege, weil sich unser Mangel an Wissen nirgends so
deutlich zeigt, wie in der Sprache. Da aber schon jedes Kind mit
seiner Sprache seine persoenliche Unkenntnis ausdruecken koennen
muss, brauch unsere Sprache auch ein hohes Mass an Unschaerfe. Sie
zeigt sich nicht zuletzt in der Vielzahl an Rechtschreibfehlern,
wobei bekanntlich auch ein hohes Mass an Sprachgefuehl beteiligt
ist, und ueber dass diskutieren hier viele bewusst oder unbewusst.



Genau. Deswegen habe ich den stillschweigenden Austritt aus der deutschen Rechtschreibung beschlossen. Was der Staat befiehlt bzw. gedankenlose Politvollstrecker erlassen haben, ist nicht mehr meine Sprache! Mir wurde von oben herab die Schreibe verboten und vorgeschrieben und zwar, wie Wolf Schneider singemaess sagte, von ein paar gelangweilten unbedeutenden Germanisten, die es nicht ertragen konnten, irgendwann ins Grab und die Bedeutungslosigkeit zu sinken, ohne sich mit ueberfluessigen willkuerlichen Aenderungen an der deutschen Sprache vergangen und Millionen Buerger ungeheuerlich belaestigt zu haben.


MfG B. Storck





Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.