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Re: [InetBib] Wikipedia: Ein Leuchtfeuer, das laufend seine Position ändert ... NZZ 20.1.2006



Am Montag, 23. Januar 2006 14:34 schrieb Karl Dietz:
Am 23 Jan 2006, um 12:19 hat Ulrich Fuchs geschrieben:
die Positionierung ist eher
links-esoterisch-wissenschaftsjournalistisch als wissenschaftlich.

Hi,

danke für die Mail. dies vorab.

Dann die Frage, ob obiges durch Zahlenmaterial belegt werden
kann? 

Wohl nur schwerlich. Es ist ein Bauchgefühl, das sich aus der Erfahrung nährt: 
Ich bin bei Artikel 10000 zur deutschsprachigen WP gestoßen, habe etwa bei 
150000 das Handtuch geworfen und beobachte die Entwicklung dort trotzdem noch 
täglich. 

Solche Aussagen können Sie schlichtweg nicht quantifizieren - wieviel Prozenz 
ist ein Artikel "links" oder "rechts". Aber wenn sie sich Diskussionen zu 
bestimmten Themen oder die Artikel selber anschauen (heute bin ich bspw. über 
[[Prekarisierung]] gestolpert, die Politiker-Artikel sind auch ein gutes 
Beispiel), und das ganze zur Teilnehmerstruktur (eher jung und 
universitätsnah) in Beziehung setzen, dann ist der Grundtenor der Wikipedia 
jedenfalls nicht unbedingt als "rechtskonservativ" zu bezeichnen, um es mal 
vorsichtig zu formulieren. Das muss ja nichts schlechtes sein (ich lese auch 
lieber Süddeutsche als FAZ), aber es wichtig zu sehen, dass der "neutrale 
Standpunkt" zwar deklariertes Ziel ist, aufgrund der Zusammensetzung der 
Community heraus jedoch etwas anderes emergiert. 

Den "Esoterik"-Vorwurf mache ich der Wikipedia, weil sie dazu tendiert 
bestimmte esoterische Themengebiete über Gebühr breitzutreten, und die 
wichtigte Information unter "Blafasel" zu verstecken (bspw. in Artikeln wie 
[[Eckankar]] oder [[erfundenes Mittelalter]]).

Die eher wissenschafts"journalistischen" Ansätze schließlich erkenne ich 
insbesondere daran, dass als "Quellenangaben" häufig Webseiten, 
Fernsehberichte etc. genutzt werden. Ich habe mir vor ein paar Wochen mal den 
Spaß gemacht, den Artikel zur Mona-Lisa um eine Information zu ergänzen, die 
ich einer Meldung entnommen hatte: Sie sei zu 83 Prozent glücklich, zu 9 
Prozent empört, zu 6 Prozent besorgt und zu 2 Prozent verärgert. (Ok, man 
soll nicht stören, aber da konnte ich einfach nicht widerstehen.) Das ganze 
habe ich bewusst ohne Quellenangabe getan. Die (der New Scientist) wurde dann 
prompt nachgetragen - dass die ganze von mir eingefügte "Information" im 
enzyklopädischen Sinn völlig belangloser Quark ist, fiel überhaupt nicht auf 
- es war ja schließlich eine schöne journalistische Meldung.

Denn soweit ich das übersehe, ist der zweite genannte 
Punkt sicher vertreten, und speziell diese Inhalte, die
Weltanschauliches betreffen, sind schwierig zu "überschauen" -
aber zahlenmässig sind die doch nicht sooo stark.
s.a. das Portal:Esoterik. Das hält sich doch in Grenzen. imho.

Ja, es hält sich in Grenzen. Es ist nicht die absolute Zahl an Artikeln. Es 
geht darum, dass sich beispielsweise so eine Literaturangabe zu Illigs 
Erfundenem-Mittelalter-These 
( 
http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Karl_der_Gro%C3%9Fe&diff=4959311&oldid=4958202)
eine ganze Woche bei einem Artikel zu Karl dem Großen hält. Ein Einzelfall, 
natürlich. Aber ich glaube, dass die Summe solcher Einzelfälle doch ganz 
erheblich ist.

The simplest online database that could possibly work. --Ward
Cunningham

Obacht - Cunningham sieht Wikis als in aller Linie als 
Kommunikationsinstrument für Gruppen, trotz diesem Zitat. Dafür taugen sie 
m.E. aber nicht (die Kommunikationsstränge zu verfolgen ist viel zu 
unübersichtlich, Bulletin-Board-Software ist da wesentlich geeigneter). Wofür 
sie taugen, ist gemeinschaftliche Texterstellung, die hatte Cunningham aber 
bestenfalls peripher im Sinn.


down thinkers (Modernists). Wikis are a very efficient method of
building massive databases of searchable and organized
information. 

Entschuldigung, dass ich jetzt auch noch auf dieses Zitat eingehe, aber das 
halte ich wirklich für ausgemachten Schwachsinn (nochmal Entschuldigung), der 
davon zeugt, dass Terry Heaton absolut nicht verstanden hat, was ein Wiki 
ist. Und ich würde mich sehr freuen, wenn sich diese seine Meinung nicht 
großartig etablieren würde, weil dann das Heer der Unternehmensberater 
tausende wehrlose Angestellte mit Wikis unglücklich machen wird, denen diese 
Technologie in Situationen aufs Auge gedrückt wird, für die sie nicht taugt.

Wikis sind bestenfalls effizient, um *kleine* Datenbanken aufzubauen. Die 
Wikipedia ist im Verhältnis von Aufwand (getätigte Arbeitsstunden) zu 
Ergebnis extrem ineffizient, insbesondere wenn es darum geht, die Inhalte zu 
*organisieren*. Bitte nicht vergessen, dass hunderte von Personen und 
programmierten (auch das muss jemand tun) "Bots" stundenlang damit 
beschäftigt sind, Vorlagenbausteine zu ersetzen, Kategorien zu ändern etc. 
und damit ein enormes Rauschen produzieren, sobald zusätzliche Daten benötigt 
werden oder sich die Struktur der wenigen(!) Daten in der Wikipedia minimal 
ändern soll.

Wikis eignen sich phänomenal gut für Hypertext(!), der von vielen(!) Anwendern 
erstellt werden soll, für den ein inhaltliches Ziel definiert wurde(!) und in 
den zusätzlich ein Minimum(!) an Ordnung(!) gebracht werden soll. Aber für 
nichts sonst. Ein Bibliothekskatalog auf Wikibasis wäre blanker Unsinn: Für 
"massive databases of searchable and organized information" sind klassische 
Datenbankmanagementsysteme, für die auf klassische (oder auch gerne moderne, 
agile) Weise Anwendungen entwickelt werden, hundert Mal effizienter,  
bedienungsfreundlicher und billiger.

mit besten Grüßen
Ulrich Fuchs



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