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[InetBib] Handschriften als Politikum



Liebe Liste,

die Vorgänge um die Badischen Handschriften sind bei aller Betrübnis ein 
interessantes Beobachtungsfeld für Bibliothekspolitik. In Stuttgart (HdM) soll 
es ja eine einschlägige Professur geben ...

Hier ein paar Gedanken aus dem Thüringer Wald:

I. Proteste
Offenbar gelingt es kaum, die Öffentlichkeit für den Fall in größerem Umfang zu 
interessieren. Die - zahlenmäßig zu vernachlässigenden - Kreise, deren 
Augenmerk üblicherweise auf Handschriften gerichtet ist, kennen keine 
öffentliche Protestkultur. Aus Sicht der Politiker heißt das: Hier gibt es 
wohlfeile Bauernopfer.

II. Umgang mit Altbestand in der Bibliothek
Es darf als tödlich gelten, wertvolle Bestände weitgehend unter Verschluß zu 
halten. Eine offensive Ausstellungspolitik verbunden mit ausgedehnter 
Digitalisierungstätigkeit sowie Integration universitäterer Forschungsvorhaben 
spannen ein Netz, das im Fall der Fälle Rückhalt gibt, wenn es um den Erhalt 
wertvoller Sammlungen geht. Öffentlichkeitsarbeit und Altbestand sind in 
Zeiten, in denen Kultur nicht mehr selbstverständlich ist und sich zunehmend 
legitimieren muß, eine absolut notwendige Kombination. Die Spitzweg-Ära ist 
definitiv vorbei, auch bei "Handschriftens".

III. Handschriften als Politikfeld
Hier wird jeder Berufspolitiker zunächst abwinken. Es ist daher notwendig, die 
Handschriften in einen anderen Kontext zu stellen. Denkbar wäre dies: 
Unabhängig von ihrem konkreten Inhalt, der in der Tat nur für wenige 
Interessenten von Bedeutung ist, symbolisieren Handschriften in einzigartiger 
Weise Geschichte. Sie sind Zeugnis und beredter Überlieferungsträger in einem. 
Keine andere Hinterlassenschaft kann für sich in Anspruch nehmen, Geschichte 
schlechthin zu sein. 
Dieses Bild wird auch von der breiteren Öffentlichkeit verstanden. Alte Bücher 
und geheimnisvolle Handschriften sind beliebte Themen populärer Literatur und 
Bestandteil des visuellen Gedächtnisses weiter Kreise. Man denke nur an 
Harry-Potter-Filme und dergleichen. Hier gibt es eine Grundsympathie für altes 
Schriftgut, die zu aktivieren wäre. 
Eine pessimistische Sicht würde sagen, erst wenn die Handschriften brennen, 
bekommen sie Aufmerksamkeit. Diese Ansicht teile ich aber nicht. Obwohl, als 
Thüringer, hm, .... :-/
Handschriften sind aber nicht nur Symbole der Geschichte, sie sind auch "Ikonen 
der Wissensgesellschaft". Ein Gemeinwesen, in dem Wissen und Information eine 
entscheidende Rolle spielen, braucht einschlägige Hinterlassenschaften .
Ein Bundesland wie Baden-Württemberg, das mir Recht auf Tradtionen setzt, 
beginge mit dem Verlust der Handschriften einen schweren "Branding-Fehler". Es 
ist nach dem Verkauf von Handschriften nicht mehr glaubwürdig, eine 
"Wissensgesellschaft aus Tradition" sein zu wollen. Das wäre übrigens ein guter 
Slogan: "Wissensgesellschaft aus Tradition", um den Erhalt der Handschriften 
politisch zu legitimieren. Sollten die Handschriften im Land bleiben, dann muß 
dies politisch erfolgreich vermarktet werden. Eine große Ausstellung, ein 
opulenter Katalog, Digitalisierung, Webpräsenz, Forschungsprojekte. Alles das 
zusammengenommen wäre eine optimistische Vision und ein guter Startschuß für 
die "Wissensgesellschaft aus Tradition". Ein Kulturpolitiker mit Phantasie kann 
sich hier gut profilieren.

IV. Was kann man sonst tun?
Wissenschaftler vor Ort sollten JETZT in großem Stil Anträge auf Benutzung der 
Handschriften stellen. Schließlich gilt es, das kulturelle Erbe kurz vor Schluß 
zu sichten. Bei Zulassungsproblemen lassen sich juristische Wege beschreiten. 
Alles das vielleicht keinen Erfolg, aber Zeit. Eine vollständige 
Digitallisierung der Handschriften sollte überdies SOFORT begonnen werden. Wenn 
die Handschriften nicht mehr zu retten sind, dann sollte wenigstens die 
textliche Information öffentlich zugänglich bleiben. Es wäre ein Armutszeugnis, 
wenn in einem Land mit einem gut entwickelten Bibliothekswesen noch nicht 
einmal dies möglich wäre.

Schönes Grüße aus der "Denkfabrik" an die, "die alles außer Hochdeutsch 
können". :-)
Eric Steinhauer



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