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Re: [InetBib] Was geht in § 52b UrhG?



On Mon, 12 Nov 2007 17:08:18 +0100 (CET)
 Eric Steinhauer<eric.steinhauer@xxxxxxxxx> wrote:
Lieber Herr Delin, lieber Herr Müller, liebe Liste,

um die Diskussion hier ein wenig zu beleben und um das
Vorurteil, zwei Juristen - zwei bis drei Meinungen, zu
bestätigen, sage ich zu Ihrer Frage, ob Bibliotheken für
den Leseplatz nun alles digitalisieren dürfen: Die
Antwort ist schlicht: NEIN.

Wie nach dem von Steinhauer angesprochenen Beitrag
http://archiv.twoday.net/stories/4311044/
zu erwarten, sehe ich das ius digitalisandi in § 52b UrhG
implizit gegeben an.

Wer keine Freude an subtilen juristischen Eroerterungen
hat, sollte hier mit dem Lesen aufhoeren.

(i) § 53 UrhG trifft keine erschoepfende Regelung
hinsichtlich des Vervielfaeltigungsrechts.

Bei jeder werbenden Produktankuendigung ist es nach BGH
Parfumflacon (http://lexetius.com/2000,2046) im Interesse
des freien Warenverkehrs zulaessig, Abbildungen
urheberrechtlich geschuetzter Produktgestaltungen (z.B.
Buchcover) ohne Zustimmung des Inhabers der Rechte an der
Produktgestaltung zu verwenden (ich darf also das Produkt
selbst fotografieren, um es auf Ebay einzustellen, aber
nicht das Foto eines anderen klauen). Davon wird in
riesigem Umfang Gebrauch gemacht, man kann also nicht
behaupten, es handle sich um eine vernachlaessigbare
Ausnahme.

Um das Zitatrecht wahrnehmen zu koennen, muss das
entsprechende Werk bei der Vorbereitung vervielfaeltigt
werden. Auch wenn die juristische Kommentarliteratur die
diesbezueglichen Ausfuehrungen des Bibliotheksjuristen
Peters ignoriert, so habe ich doch keinen Zweifel, dass er
das Richtige getroffen hat:

Klaus Peters, Urheberrechtsfragen audiovisueller Medien in
Bibliotheken, 2. Aufl., Hamburg/Augsburg 1989, S. 128.

Wenn der Gesetzgeber Murks gemacht hat, kann man demnach
ohne weiteres auch annehmen, dass er versehentlich das
Annex-Vervielfaeltigungsprivileg nicht geregelt hat oder
der Ansicht war, dass es keiner Regelung bedurfte.

Wir muessen uns im klaren sein, dass
wissenschaftstheoretisch die Redeweise von Intentionen des
Gesetzgebers hoechst problematisch ist. Der Gesetzgeber ist
kein Subjekt, das etwas "will" oder mentale Zustaende hat.
Fuer die Auslegung massgeblich ist das, was in den
Begruendungen steht (amtliche Begruendung, Beschluesse der
Ausschuesse), wobei hilfsweise auch die parlamentarische
Diskussion und wenn alles nicht hilft auch die oeffentliche
Diskussion heranzuziehen ist.

Fuer eine Einschraenkung auf vergriffene Werke gibt es in
diesen Materialien, soweit mir bekannt, keine
Anhaltspunkte. 

(ii) Diese Leseplatzregelung folgt einer europarechtlichen
Vorgabe und ist in deren Licht auszulegen.

Link zur Informationsrichtlinie
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2001:167:0010:0019:DE:PDF

Hier ist nur in Artikel 5 von einer Ermoeglichung des
Informationszugangs an besonderen Terminals die Rede, aber
nicht, dass qua fehlender nationaler
Vervielfaeltigungsregelungen das Recht voellig ausgehoehlt
gewaehrt werden kann.

Herr Steinhauer wird erwidern, dass die Vorgabe der
Richtlinie den nationalen Gesetzgebern die Schranke
ermoeglicht, aber nicht vorschreibt.

Trotzdem bleibt festzuhalten, dass die
Informationsrichtlinie, die ja auch keine
Annex-Vervielfaeltigung regelt, zur Auslegung heranzuziehen
ist. Sie will eine Nutzung fuer Endnutzer ermoeglichen und
geht davon aus, dass die erforderlichen
Vervielfaeltigungshandlungen in Ordnung gehen.

(iii) Auch mindestens zwei Jahre vergriffene Werke duerften
nach dem Steinhauerschen Ansatz nicht vervielfaeltigt
werden.

Stellt sich heraus, dass es ueberhaupt keine Werke gibt,
die rechtmaessig nach § 53 UrhG vervielfaeltigt werden
duerfen,  so gilt, dass § 52b UrhG verfassungswidrig
(gravierender Verstoss gegen Normenklarheit) ist oder
verfassungskonform ausgelegt werden muss - oder: Die
Praemisse, also der Steinhauersche Ansatz, ist falsch. Ich
neige zu letzterem.

Mindestens zwei Jahre vergriffene Werke duerfen nur zum
"eigenen Gebrauch" vervielfaeltigt werden. Das ist kein
Gebrauch durch Dritte!

Das ergibt sich bei ganzen Buechern (bzw. Zeitschriften und
Noten) aus § 53 Abs. 4, sonst aus Absatz 2 Satz 1 Nr. 4
Buchstabe b in Verbindung mit Satz 3. Wird Nr. 4 in
Anspruch genommen, muss nach Satz 3 entweder Nr. 1
(wissenschaftlicher Gebrauch) oder Nr. 2 (das eigene
Archiv) gegeben sein.

Da die Nutzung der Leseplaetze auch zu privaten Studien
moeglich sein soll, scheidet Nr. 1 aus. Es bleibt also nur
die Archivregelung als Rechtfertigung, die aber Steinhauer
als Legitimation ablehnt.

(Allerdings ist zu bemerken, dass es naheliegt, den Verweis
von § 53 Absatz 2 Satz 3 auf Satz 2 Nr. 2 nur auf das
Vorliegen des eigenen Werkexemplars zu beziehen. Dann waere
es anders als in Absatz 4 auch moeglich, z.B. eine
vergriffene Musik-CD zu digitalisieren.) 

Wir haben somit also bewiesen, dass sein Ansatz zu einem
Widerspruch fuehrt, also dazu, dass gar nichts an den
Leseplaetzen zugaenglich gemacht werden kann, wenn man § 53
UrhG "vorschaltet". Daher ist Steinhauers Ansatz falsch
oder wir muessen - sollten wir der Murks-Theorie folgen -
zu einer verfassungskonformen Auslegung greifen. 

(iv) Die Archivregelung des § 53 UrhG leistet genau das,
was vermisst wird: Das Annex-Vervielfaeltigungsprivileg.

§ 53 Abs. 6 UrhG sagt eindeutig: "Die
Vervielfaeltigungsstuecke duerfen weder verbreitet noch in
oeffentlichen Wiedergaben benutzt werden". Satz 2
ermoeglicht nur das Verleihen, nicht das oeffentliche
Wiedergeben vergriffener Werke.

Da es in § 52b um eine oeffentliche Wiedergabe geht,
muesste § 53 Abs. 6 durch § 52b gleichsam "geoeffnet"
werden.

§ 52b betrifft eine Nutzung durch Dritte, suspendiert also
 in jedem Fall das Erfordernis des eigenen Gebrauchs.

Nach Steinhauer duerften nur vergriffene Buecher und
Zeitschriften digitalisiert werden, keine anderen Medien (
  § 53 Abs. 4).

Waehrend sich die privaten Studien an den Leseplaetzen auf
§ 53 Abs. 1 stuetzen koennen, gilt fuer den
wissenschaftlichen Gebrauch, dass dieser fuer den
wissenschaftlichen Zweck geboten sein muss. Der einzelne
Wissenschaftler entscheidet also aufgrund seines konkreten
Projekts, ob es geboten ist, eine Kopie anzufertigen. Eine
Vorratsvervielfaeltigung fuer alle beliebigen
wissenschaftlichen Zwecke faellt nicht darunter.

Eine fuer die betriebsinterne Nutzung (scheidet bei
Bibliotheken aus) und die Bestandssicherung rechtmaessig
angefertigte digitale Kopie, kann von nicht-kommerziellen
Bibliotheken fuer die Leseplaetze weitergenutzt werden, da
das Weiternutzungsverbot des Absatzes 6 durch § 52b ja
suspendiert wird.

Es ist unbestritten, dass Bibliotheken fuer die
Bestandssicherung digitalisieren duerfen. Solche digitalen
Kopien duerfen im Rahmen des § 52b weitergenutzt werden.

Steinhauer streicht aufgrund des § 52b nur den eigenen
Gebrauch und kommt daher nur auf den Absatz 4, der nur
vergriffene ganze Buecher und Zeitschriften (und
Musiknoten) betrifft. Es ist aber vom Zweck der Regelung
zwingend geboten, eine Weiternutzung aller rechtmaessig
hergestellten Vervielfaeltigungen zuzulassen, also auch der
Archivstuecke.

Es gibt keine Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber die neue
Schranke auf Gedrucktes beschraenken wollte, also Ton- und
Bildaufzeichnungen grundsaetzlich ausgeklammert wissen
wollte.

Akzeptiert man diese Praemisse, ist meine Widerlegung
Steinhauers anhand von § 53 UrhG schluessig.

Akzeptiert man sie nicht, bleiben immer noch die davon
unabhaengigen Argumente (i) und (ii).

Der Dumme ist in jedem Fall der Bibliotheksbenutzer, denn
entweder
a) Bibliotheken folgen Steinhauers uebervorsichtiger und
abwegiger Position und enthalten ihm so die
Leseplatznutzung des Gros der in Betracht kommenden Werke
vor
oder
b) die Verbandsfunktionaere (angefuehrt von der meines
Erachtens unfaehigen Frau Beger) paktieren mit dem
Boersenverein einmal mehr auf Kosten des Benutzers unter
Inkraftsetzung einer vertraglichen Regelung, die den
Bibliotheken kaum Spielraum fuer die Digitalisierung
moderner Werke laesst.

Fuer einen Musterprozess werden sie sicher zu feige sein.

Von der vorstehenden Frage unabhaengig ist die Frage, ob
eine Bibliothek sich bei Ankauf eines gedruckten Buchs an
einer bereits bestehenden Digitalisierung fuer die
Leseplatznutzung bedienen duerfte. Man koennte das
Verbreitungsrecht dadurch tangiert sehen. Aber das waere
eine eigene Abhandlung ...

Klaus Graf




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