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Re: [InetBib] Ausschreibung dbv-Kommission Kundenorientierte Services und Vision für deutsche Bibliotheken usw.



Lieber Herr Jobmann, 
eine interessante Diskussion. 
Ich denke auch schon etwas länger über den Kundenbegriff nach im Verhältnis zu 
dem des Bürgers. Der Begriff des Bürgers ist in den letzten Jahren sehr 
geschwächt worden, da öffentliche Güter und öffentliches Recht durchdrungen 
wurden von Prinzipien betriebswirtschaftlicher Konzepte und auch bestimmten 
Interessen im Hintergrund, aber das lasse ich jetzt mal weg. 

Es gibt - da gehe ich nicht ganz mit Ihnen konform - schon recht ernst zu 
nehmende Literatur über den Qualitätsbegriff und einer Orientierung an 
Nutzerwünschen. Das begann mindestens Anfang der 90 ger Jahre mit Thematiken 
wie Qualitätsmanagementverfahren, Umfragen zum Benutzerverhalten und zur 
Benutzerzufriedenheit und zu Kennzahlensystemen nicht nur über die DBS und den 
BIX sondern auch Balanced Scorecard Systemen, die schon ein bisschen mehr als 
nur nackte  Zählungen sind sondern durch das In-Verhältnis-Setzen von Zahlen 
und Kontexten eine Nuance inhaltlicher Qualität in sich tragen. Auch 
prozessorientierte Qualitätsmanagementsysteme können sinnreich sein, Ergebnisse 
für Benutzer positiv zu lenken. Wenn ein Prozess nicht funktioniert, z. B. wenn 
Schulungen schlecht organisiert sind etc. leidet das Ergebnis für den Nutzer. 
Diese System sollten durchaus positiv denkend, dazu beitragen, dass sich 
Bibliotheken mit ihren Eigenarten in der rein output-orientierten Welt 
behaupten können.

Aber in der Tat, andere Konzepte eines Auftrags von Bibliotheken, als nur im 
Sinne der Betriebswirtschaft effizient zu sein, sind stark weggedrängt worden. 
Es gibt noch andere Ethiken, die in Bibliotheken eine Rolle spielen:
- Ethos der Bildung, Ethos der Wissenschaft - also das Sammeln, Erschließen und 
Vermitteln für diese Systeme und die Freiheit dieser Systeme
- Ethos der Beratung, Empfehlung, pädagogisches Ethos: jemandem etwas erklären 
wollen, etwas erschließen wollen, etwas eröffnen wollen
- Ethos der Technik: wir wollen moderne Tools anbieten, Services, uns 
weiterentwickeln, 
- Ethos der Informationsfreiheit: wir wollen Benutzern die Möglichkeit 
eröffnen, sich frei zu informieren, den Zugang zur Information sichern
- Ethos des Sammelns im Kontext: das Zusammenfügen verschiedener Materialien 
vom alten Buch bis zur elektronischen Quellen unter einem Prinzip
- Ethos des Erhaltens, Sicherns, Archivierens, Restaurierens: das Erhalten und 
Erschließen von Kulturgut für uns, unsere Nachkommen nicht nur für 
augenblickliche Interessen
-Ethos der Gesellschaft: ein Zusammenbringen von Menschen durch das Angebot von 
Medien und Räumen, die diese Medien anbieten
-Ethos des Raumes: Bibliothek als Raum für Bildung, Kultur und Kommunikation, 
bis hin zu einem Ethos der Architektur dafür und für die (städtischen) 
Umgebungen
Da dürfte noch einiges fehlen.. 

.. diese Dinge sind allein mit dem Kundenbegriff nicht aufzufangen. Der Kunde 
ist immer ein konkretes Gegenüber, auch als Gruppe nach Analyse der 
Kundenbedürfnisse wird immer auf ein aktuales Verhältnis abgestellt. 
Kontexte wie oben spielen hier keine Rolle. Besonders weil hier selten von 
diesem etwas bezahlt wird.. der Bibliotheksbenutzer zahlt ja nicht - abgesehen 
von der Gemeinschaftsabgabe der Steuern - dafür. Man kann den Gewinn in Preisen 
oder in Nutzerzahlen nicht genau sofort ausmachen. QM-mäßig gesehen liegt das 
im Bereich des Outcomes, in der Wirkung von Bibliotheken. 

Auch diese Fragen werden in letzter Zeit in Form von Bibliothekssoziologie, 
anthropologischen Konzepten und Qualitätsmessungsverfahren neu betrachtet. 
Daran kann man erkennen, dass Bibliothekaren hier durchaus etwas aufgefallen 
ist.... nämlich das dieser Betrachtungswinkel fehlt und wieder neu Raum finden 
muss. Allerdings werden unsere Einrichtungen auch selten nach solchen 
Zusammenhängen gefragt, sondern nur nach Ausleihen etc. Es ist sehr schwierig, 
Konzepte mit Zielsetzungen langfristiger Art  in Gremien und Haushaltsdebatten 
einzubringen. Das suchen sich Bibliotheksleitungen nicht aus und es geht 
zuweilen über die Kräfte.

Allerdings, und diesen Punkt sprechen Sie ja auch an: die Degradierung, die 
hier stattgefunden hat, betrifft gar nicht mal die Bibliotheken, sondern sie 
betrifft den Nutzer!
Ein Kunde ist ein Konkretum, kein Konzept in Richtung Mensch, Benutzer, Bürger. 
Ein Kunde hat konkrete Wünsche, will "nur" das! Und hat das auch zu bezahlen. 
Wer nicht zahlen kann, ist kein Kunde.
Wenn dieser Kunde dann nicht als Bürger trotzdem Anrecht auf etwas hat, ist er 
"draußen". Der Kunde der Arbeitsagentur ist hier doppelt mittellos, er hat 
keine Ansprüche und er kann auch nicht zahlen, und die Mitarbeiter der Agentur 
wären vielleicht gerne wieder Verwaltung im öffentlich rechtlichen Kontext und 
nicht Diener der Statistik. Ich möchte da nicht arbeiten müssen. 

Deshalb nutzt der Schuss auf die Bibliotheken, die Verbände wenig.. in der Tat 
werden durch Begrifflichkeiten und Statements dieser Art die Plakate der 
betriebswirtschaftlichen Denkweise, die als Instrument gut sind, aber nicht als 
alleinige Grundlage, noch weiterverteilt. Aber Ursache sind sie nicht. In der 
Tat kann hier nur etwas helfen, was Grundprinzipien eines öffentlich Rechtes 
manifestiert: ein Gesetz. Und als zweites sind es die Bürger/innen selber, die 
sagen müssen, dass sie öffentliche Güter wollen und nicht nur Kunden sind. 
(Ihre Wut kann ich übrigens verstehen.. es überkommt mich auch zuweilen.. )
Herzliche Grüße
A. Kustos

 
Der Punkt an dem es sich reibt ist insgesamt 

-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Inetbib [mailto:inetbib-bounces@xxxxxxxxxxxxxxxxxx] Im Auftrag von 
peter.jobmann@xxxxxxxxxxx
Gesendet: Mittwoch, 10. Juli 2013 18:09
An: inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx
Betreff: [InetBib] Ausschreibung dbv-Kommission Kundenorientierte Services und 
Vision für deutsche Bibliotheken usw.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 

        und täglich grüßt das Kundengedöns. 

        Die beiden Emails, die einer Lehrbeauftragten der HAW Hamburg und jene 
von Frau Schleihagen im Namen des dbv, sind der Tropfen der das Fass auf dem 
I-Tüpfelchen der Ahnungslosigkeit zum Überlaufen bringt. 

        Nach Jahren des Versuchs mittels eines oktroyierten Leitbildes („Code 
of ethics“) den Kundenbegriff als soziale Erwartungshaltung den 
Bibliotheksbesucherinnen und –besuchern und den Kolleginnen und Kollegen in den 
Bibliotheken überzustülpen, gründen Sie nun eine dbv-Kommission für 
kundenorientierte Services. Eine Manifestation fachlicher Ahnungslosigkeit und 
zugleich ein Offenbarungseid der verlorengegangenen Orientierung bezüglich der 
eigenen Rolle in der Gesellschaft. Auf welchen Kundenbegriff berufen Sie sich 
denn? In der bibliothekswissenschaftlichen Literatur werden Sie dazu ja quasi 
nichts ernstzunehmendes finden. Es sei denn, wir nehmen z.B. die knapp
30 Zeilen der Definition auf dem Bibliotheksportal ernst oder jene zwei Seiten 
aus „Erfolgreiches Management von Bibl. usw“ oder andere ähnlich oberflächliche 
Texte. Je länger man sich mit diesem Begriff beschäftigt, desto mehr erscheint 
folgende Möglichkeit für die Nutzung plausibel: der Begriff klingt so schön. 
Oder anders formuliert - für jene die sich gerne mittels ihrer Sprache von der 
Welt der Nichtwissenschaftler und –wissenschaftlerinnen abgrenzen
möchten: wegen der kommunikativen Attraktivität des Kundenbegriffs. 

        Managementlehre, Konsumforschung und Marketing bilden das Rückgrat des 
bibliothekswissenschaftlichen Denkens. Gleichsam steckt in diesen drei Punkten 
auch das ganze traurige Bibliotheksbild: das Verständnis der 
Bibliotheksbesucherinnen und –besucher als Konsumentinnen und Konsumenten. Die 
armseligen Instrumente für Fantasielose (z.B.: BIX oder Bibliothek mit Qualität 
und Siegel), in denen fast ausschließlich Quantität steckt und die wir der 
Bibliotheksumwelt konsequent als Qualität anbieten, sind ein gutes Indiz 
hierfür. 

        Die Soziologie des Kundenbegriffes hingegen interessiert kaum. Wie 
verändern wir die Einrichtung mit dem Verständnis der Bibliotheksbesucherinnen 
und –besucher als Kundinnen und Kunden? Die auch in der 
bibliothekswissenschaftlichen Literatur durchaus belegbare Komplementärrolle 
Bibliothekar / Leserin (und andersherum) wurde bspw. durch nichts ersetzt. Die 
Funktionszuschreibung der Bibliothek in der Gesellschaft wurde quasi einfach in 
die Tonne getreten und mit einem Begriff ersetzt, der keine Rolle in der 
Gesellschaft beschreibt, sondern eine Rolle auf dem Markt – dem Kundenbegriff. 

        Ein weiterer Punkt: das gesetzlich zugesicherte Anrecht auf z.B. eine 
Informationsdienstleistung (Bibliotheksgesetz) wird gerade vom dbv beständig 
gefordert. Damit schließen Sie jedoch gerade einen Markt aus und definieren 
eine Art Vertragsbeziehung. Daraus lässt sich ein schlichter semantischer 
Missbrauch ableiten, ähnlich dem in den sogenannten Arbeitsagenturen. Auch dort 
möchte man nichts erwerben.
Der Tauschwert für die zu erbringende Dienstleistung z.B.
Arbeitslosengeld ist bereits erbracht. Selbiges fordern Sie für Bibliotheken 
und ignorieren mittels der Nutzung des Kundenbegriffs jegliche Konsequenz. 

        Diese wenigen Sätze bitte ich als kürzeste Kurzform zu verstehen.
Zahlreiche Publikationen zum Kundenbegriff existieren außerhalb des 
bibliothekarischen Mantras (Managementlehre, Konsumforschung und Marketing). 
Nirgendwo ist eine ähnliche Vereinfachungswut nachzuvollziehen wie in unserer 
Fachwissenschaft. 

        Aber verstehen Sie mich nicht falsch, gerne bewerbe ich mich um die 
Mitarbeit in der Kommission. Sehr gerne helfe ich dabei aufzuzeigen, warum 
diese Kommission Zeit-, Geld- und Hirnverschwendung darstellt. 

        Nun noch ein paar Worte zu den Visionen für deutsche Bibliotheken u.
Informationseinrichtungen: 

        Ein Blick in das Modulhandbuch des Bibliotheksstudiengangs der HAW 
zeigt eines deutlich: Studierende werden keinesfalls befähigt den Kundenbegriff 
zu verstehen und zu hinterfragen. Gleichwohl taucht dieser Begriff durchgehend 
in diesem Studiengang auf. Studierende sprechen wie selbstverständlich vom 
Bibliothekskunden und der Bibliothekskundin. Dieser Zustand ist aus meiner 
Sicht nicht nur fachlich fragwürdig, sondern vor allem moralisch. Man kann hier 
nicht von der Anleitung zur wissenschaftlichen Arbeit sprechen, man muss 
definitiv vom Versuch der Erziehung zu einem bestimmten persönlichen 
Rollenverständnis in der Gesellschaft sprechen. 

        Insofern verstehen Sie meinen Beitrag gerne als meinen Teil eines 
Dialoges, der Sie dazu auffordert grundlegende fachliche und moralische Grenzen 
einzuhalten und die Zukunftsgedanken auf ein solides Fundament zu stellen, 
statt sich in einem oberflächlichen und für die Zukunft des Berufsstandes 
gefährlichen Geschwurbel zu verfangen. 

        Beste Grüße 

        Peter Jobmann
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