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Re: [InetBib] "Bibliothekspädagogik reloaded"



Lieber Kollege Spieler,

das gleiche Trauma habe ich im Alter von 10 Jahren auch erlebt und es hat mich 
aus heutiger Sicht dazu getrieben, mit fürchterlicher Beharrlichkeit immer die 
verbotene oder schwer zu findende Originalquelle aufzuspüren und zu lesen. Das 
hat mir oft Ärger, aber noch öfter interessante Gespräche und Einsichten 
eingebracht. Es macht das Leben nicht einfacher, aber interessanter und ich 
weiß nicht, ob das alles so gekommen wäre, wenn ich alles schrankenlos hätte 
lesen dürfen. Aber das ist wahrscheinlich die alte Geschichte von Eva und dem 
Apfel und darüber kann man unterschiedlich denken.
Wie handhaben es denn die Kollegen und Kolleginnen in den Videotheken?

Viele Grüße
--
Jana HaaseAm Friedrichshain 19 c10407 BerlinTel. 030 441 50 84

----- ursprüngliche Nachricht ---------

Subject: [InetBib] "Bibliothekspädagogik reloaded"
Date: Di 04 Nov 2014 16:16:52 CET
From: Martin Spieler<Martin.Spieler@xxxxxxxx>
To: 'Forum Oeffentliche Bibliotheken'&lt;forumoeb@xxxxxxxxxxxxxxxxx&gt;, 
inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx

+++ Versand an Inetbib + Forumoeb - bitte entschuldigen Sie ggf. den 
Doppelempfang +++

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich möchte Sie an Erlebnissen mit unserer örtlichen Bibliothek (Stadt 
mit über 20.000 EW und hauptamtl. Bibl.-Personal) teilhaben lassen, die 
sich in den vergangenen 2 Jahren in Varianten immer wieder ereignet hat. 
Die jüngste Episode "lief" gestern und hat mich veranlasst, sie in 
verkürzter Form ins bibl. Forum zu stellen:

Unsere Tochter Christine, (14 J.), die seit je her gerne liest, 
entwickelt seit ihrem 10. Lebensjahr einen kaum stillbaren Bücherhunger 
und verschlingt seitdem Romane in atemberaubendem Tempo und Menge. Mit 
ca. 11 J. entwickelte sich ihr Interesse an einzelnen Romanen aus dem 
Erwachsenen-Bereich, nachdem sie Harry Potter, Twilight u.a. mehrmals 
rauf- und runter gelesen hatte. Mit 12 las Sie begeistert "P.S., ich 
liebe dich!"  von C. Ahern und wollte aus unserer örtlichen Bibliothek 
das zweite Buch der Autorin, "Für immer villeicht" entleihen. Die 
Antwort an der Verbuchungstheke: "Das können wir dir nicht mitgeben". 
Zunächst dachte sie, es gäbe eine generelle Altersgrenze zur Nutzung der 
Medien aus dem Erwachsenen-Bereich, aber auch die Benutzungsordnung 
lieferte keinen Hinweis auf eine solche Regel. Auf Nachfragen unserer 
Tochter stellte sich heraus, dass man ihr das Buch nicht geben wolle, 
weil "das noch nichts für sie sei", "dafür bist du noch zu jung". Unsere 
Tochter wollte nicht, dass wir zu ihren Gunsten eingriffen oder mit dem 
Bibliothekspersonal sprächen ("wie peinlich!"), sondern ließ den Fall 
auf sich beruhen.
Im Alter von 12 J. und 8 Monaten (sie hat es festgehalten!) wollte sie 
Tolkiens "Hobbit" entleihen. Systematik: "SL ,  5.2 Jugendbuch 13 - 16 
J." IK "Fantasy", Standort "Romanbereich Erdgeschoss". An der 
Verbuchungstheke erfährt sie wieder die verbale Ausleihverweigerung. 
Glücklicherweise ist die Leiterin gerade in der Nähe, Christine fragt 
"Wieso denn?" und die Leiterin sagt (in etwa) zur verbuchenden Kollegin 
"Christine darf das ruhig mitnemen, die liest so viel und ist so fit, 
das ist kein Problem - aber den "Herr der Ringe" würden wir dir nicht 
mitgeben." Nun ist Christine nicht etwa erleichtert sondern empört sich 
zu Hause darüber, dass die Ausleihe also scheinbar von der 
"individuellen Lesekompetenz" abhängig sei, eine andere/r Leser/in das 
Buch also nicht unbedingt bekommen hätte. Wir wollen als Eltern wieder 
intervenieren, was uns unsere Tochter mit dem Hinweis "verbietet", die 
Leiterin gehe ohnehin bald in den Ruhestand, und danach würde sich das 
Problem vermutlich bald erledigen, denn sie wolle dann die neue Leitung 
darauf ansprechen (sie ist guter Dinge, denn ihre Eltern, beide 
Bibliothekare, bestätigen ihr, dass solche Vorfälle in deutschen ÖBs zu 
den Ausnahmen gehören (sollten)).
Mit 14 J. - die alte Leiterin ist noch im Amt - versucht sie erfolglos , 
einen Roman von Stephen King zu entleihen. Unseren Ratschlag, das 
"Verweigerungsspektrum" auszuloten, indem sie versuchen solle Henry 
Miller, Bukowski, Remarque u.A (viel "Harmlosere") auszuleihen, lehnt 
sie dankend ab. Uns Eltern fällt es schwer, NICHT vorstellig zu werden, 
aber zähneknirschend wollen wir die Zeit abwarten, dass es in diesem 
Punkt mit einer neuen Leitung besser wird.
Die neue Leitung ist seit Frühsommer diesen Jahres im Amt. Christine 
versucht es erneut mit dem Roman von King - ohne Erfolg. Sie möchte den 
Leiter sprechen, der aber leider nicht im Haus ist. Gestern, am 3.11., 
holt sie dieses Gespräch nach. Christine gibt uns dieses Gespräch 
inhaltlich wie folgt wider: Der neue Leiter habe ihr erklärt, dass 
Medien aus dem Erwachsenen-Bereich "eigentlich" erst ab 16. J. zu 
entleihen wären. [Das ist definitiv nicht der Fall, weil unsere älteste 
Tochter, Christines Schwester, bereits mehrfach Erw.-Medien im Alter von 
13 Jahren und aufwärts entliehen hatte, für Referate, aber auch 
"privat", z.B. Zeitschriften aus dem Wohn- und Modebereich, 
Kunstbücher). Auch die Benutzungsordnung enthält keinen solchen 
Hinweis.] Zudem erklärt er ihr, dass die Bibliothek schließlich auch 
eine Verantwortung dafür trage, was die Kinder/Heranwachsenden lesen 
würden. Da sei es auch von Vorteil, dass mein keine Selbstverbucher habe 
und somit noch individuell schauen und regeln könne, welches Kind was 
entleihen wolle und dürfe.


Bevor meine Frau und ich nun weitere Schritte ergreifen (denn NUN lassen 
wir uns nicht mehr von unserer Tochter aufhalten), möchte ich gerne Ihre 
Meinung dazu hören: Wie beurteilen Sie den unten beschriebenen Fall? 
Sind Ihnen ähnliche Ereignisse jüngeren Datums bekannt? Handhaben Sie 
bzw. Ihre Bibliothek möglicherweise solche Fälle ähnlich? (Wer sich 
nicht traut, die letzte Frage öffentlich zu bejahen, kann mir gerne 
direkt antworten und ich verspreche Stillschweigen, es geht mir nicht um 
das Anprangern Einzelner, sondern um ein Gesamtbild). Auch die 
Beurteilung durch die bibliothekarischen Vereine/Verbände würde mich 
interessieren: Gibt es eine einheitliche, bibliothekspolitische und 
-ethische Antwort darauf (was ich sehr hoffe)?

An die WB-Kollegen: In etlichen WBs ist die Nutzung auch unter 18 J. 
erlaubt, sind Ihnen Fälle bekannt, in denen solche NutzerInnen von der 
Lektüre/Ausleihe bestimmter Medien ausgeschlossen sind (abgesehen von 
indizierten Werken)?

Vielen Dank für alle Reaktionen und besten Gruß
Martin Spieler

PS: Meine Frau steuert gerne folgende Episode bei um zu verdeutlichen, 
dass es sich - in seiner grundsätzlichen Art - nicht um einen Einzelfall 
zu handeln braucht, auch wenn er weitaus weniger drastisch ist. An Ihrem 
Arbeitsort, einer hauptamtlich geführten ÖB in einem Ort mit über 40.000 
Ew., hatte man das Buch "Fifty Shades of Grey" mit einer Alterssperre 
von 18 J. versehen. Auf ihren Einwand hin und nachdem etliche 16-jährige 
Leserinnen enttäuscht zurückgewiesen worden waren, hat das Buch seit 
vergangene Woche eine "Altersfreigabe" (gesteuert über eine 
Mediengruppe) ab 12 Jahre.


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