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Re: [InetBib] Keine Sonntagsöffnung mehr für Bibliotheken?



Liebe Kollegen,

eben lese ich in der Berliner Zeitung, dass auch die Länder Berlin und 
Brandenburg von dem Urteil betroffen sein könnten. Da träfe es zunächst 
besonders hart die 25 000 Menschen, die an Sonntagen in Brandenburger 
Call-Centern arbeiten. Das ist die andere Dimension des Urteils.
Zu Ihren vielen historischen und theoretischen Ausführungen kann ich 
hinzufügen, dass sich für mich persönlich wegen des Berufsalltags keinerlei 
Bibliotheksbesuche in der Freizeit mehr ergeben, weil es in dieser Großstadt 
keine nahegelegene Bibliothek gibt, die auch noch Sonntags geöffnet hat. Also 
gehe ich Sonntags in die Videothek, die einen guten Bestand hat und in der auch 
noch Leute arbeiten, die Kulturell und kommunalpolitisch aktiv sind. So komme 
ich zum kommunalen Informations- und Meinungsaustauch.  Das würde mir fehlen 
und das ist mir sehr wichtig.
Das Bücherausleihen an sich ist wie Sie sagen, auch für mich nicht mehr an 
einen realen Ort und seine Öffnungszeit gebunden.

Viele Grüße aus dem Prenzlauer Berg
--
Jana HaaseAm Friedrichshain 19 c10407 BerlinTel. 030 441 50 84

----- ursprüngliche Nachricht ---------

Subject: Re: [InetBib] Keine Sonntagsöffnung mehr für Bibliotheken?
Date: Fr 28 Nov 2014 12:56:33 CET
From: Eric Steinhauer<eric.steinhauer@xxxxxxxxxxxxxxxx>
To: Internet in Bibliotheken&lt;inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx&gt;

Am 28.11.2014 12:06, schrieb Mathis Christian Holzbach:
Nachtrag zum Stichwort  Αγορά:

Die niederländischen Bestrebungen, aus der Bibliothek eine Αγορά machen zu 
wollen, bedeutet zugleich, diese Einrichtung zu einer politischen Institution 
und damit zu einem Entscheidungsgremium  machen zu wollen, gleich dem 
germanischen Thing. ἁγορεύειν (sich in der Versammlung betätigen/ öffentlich 
reden) ist eher mit ἑκκλησία als eigentliche Bezeichnung für die Kirchen 
(Herausrufen) in Beziehung zu setzen. Dies jetzt auf die βιβλιοθήκη (wörtlich 
übersetzt: "Bücher-Aufbewahrungsort"/ „Bücherbehälter“.) zu beziehen, halte 
ich für schief. Will man dann die Bibliothek zum Gegenstand eines 
öffentlichen politisch bedeutsamen Entscheidungsortes machen? Das wäre 
tatsächlich eine interessante Bedeutungsverschiebung. Die Verbindung zum 
Μουσεῖον ist auch im Rahmen der forcierten Intention der niederländischen 
Bibliotheksschaffenden gewinnbringender.




Wir kommen jetzt hier ein wenig vom Thema ab. Allerdings zeigt mir die 
Diskussion, dass es keine gute Idee ist, historisches Wissen in der 
bibliothekarischen Ausbildung zu sehr zugunsten vorgeblich modernerer 
Themen zu ersetzen.

Wenn wir hier über Öffentliche Bibliotheken reden, über die früher so 
genannten "Volksbüchereien", so sind diese vor allem ein Kind des 19. 
und frühen 20. Jahrhunderts. Sie haben einen ihrer Ursprünge in meist 
aus privater Initiative entstandenen "Lesegesellschaften", die sehr wohl 
ein Ort der politischen Auseinandersetzung und Debatte waren. Nicht 
umsonst spielen diese Gesellschaften etwa in der Zensurgeschichte oder 
der frühen "Kulturpolizei" eine gewisse Rolle, weil sie von der 
Obrigkeit beargwöhnt wurden.

Wenn wir heute die Öffentliche Bibliothek weniger als ein "Medienlager", 
sondern als einen vor dem Hintergrund medialer Inhalte (von wo auch 
immer diese herkommen mögen: Buch, Netz, etc.) arbeitenden Begegnungs- 
und Kommunikationsraum verstehen, so ist das nicht nur nicht ohne 
Vorbild in der Geschichte, sondern fast schon eine Wiederbelebung eines 
vergessenen Gründungsimpulses für das Öffentliche Bibliothekswesen.

Hier ein willkürlicher Beleg zum Weiterlesen: 
http://books.google.de/books?id=00YSUEuzHPUC&pg=PA7&lpg=PA7&dq=lesegesellschaft+%C3%B6ffentliche+bibliotheken+vorl%C3%A4ufer&source=bl&ots=Boa_m5-JbH&sig=lUtKHI4oFYFYptxrYquVTJaT3mk&hl=de&sa=X&ei=jV94VPShCYncPdnXgZAF&ved=0CD0Q6AEwBQ#v=onepage&q=lesegesellschaft%20%C3%B6ffentliche%20bibliotheken%20vorl%C3%A4ufer&f=false

Dieser Beleg zeigt überdies sehr schön, wie entbehrlich die lokale 
Büchersammlung und die Mitgliedschaft in einer konkreten Institution für 
den Zugang zu publizierten Informationen mittlerweile ist. Um es 
deutlich zu sagen: Mir wäre noch Mitte der 90 er Jahre dieses Buch 
vermutlich nie über den Weg gelaufen. Als Einwohner einer mittleren 
Kreisstadt hätte ich vielleicht durch das VLB oder eine Buchbesprechung 
von dessen Existenz erfahren und es mir dann über die Fernleihe besorgen 
müssen. Ohne die Mitgliedschaft in der Institution Bibliothek aber hätte 
ich keinen Zugang zu solchen Inhalten gehabt. Das hat sich heute 
grundlegend gewandelt. Darauf muss man nicht nur aus fachlichen Gründen 
konzeptionell reagieren. Hier liegt auch keine geringe finanzpolitische 
Notwendigkeit, die Einrichtung "Öffentliche Bibliothek" neu 
auszurichten, will man sie als altbackenen "Mediencontainer" nicht 
nahezu verlustfrei durch das Internet ersetzen ... Ein bloßes "Haus der 
Information" ist im Online-Zeitalter sinnlos. Als Bürgermeister würde 
ich so eine Einrichtung sofort schließen und das Geld besser in der 
Musikschule oder im Schwimmbad anlegen. DAS sind die Probleme um die es 
geht, weniger etymologische Überlegungen oder dergleichen ...


-- 
Prof. Dr. Eric W. Steinhauer
Dezernent für Medienbearbeitung
Fachreferent für Allgemeines, Rechts-, Staats- und Politikwissenschaft
Fernuniversität in Hagen - Universitätsbibliothek
Universitätsstr. 21 - 58097 Hagen
Tel: 02331 / 987 - 2890
Fax: 02331 / 987-346


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