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Re: [InetBib] Bibliotheken ohne Bücher?



Lieber Herr Umstätter,
 
es nützt wenig, den Zustand der Welt zu beklagen, wie sie nun einmal ist. Die 
deutschen Bibliotheken werden ganz sicher nicht für Ebooks die selben Rechte 
erhalten wie für Bücher (also Erschöpfungsgrundsatz bei Kauf und Ausgleich 
durch die Bibliothekstantieme für den Verleih). Der DBV reitet hier ein totes 
Pferd.
 
Denkbar sind wenn überhaupt Modelle wie in Dänemark, wo die 
Bibliotheksplattform eReolen das dänische Verlagsangebot digital für alle 
eingetragenen Leser der öffentlichen Bibliotheken vorhält (bei unbegrenztem 
gleichzeitigen Zugriff und monatlicher Kontingentierung pro LeserIn).  Für jede 
Ausleihe eines Ebooks zahlt die Bibliothek ca 2 Euro. Allerdings macht der 
größte dänische Verlag Gyldendal da gar nicht mit und der zweitgrößte Lindhardt 
& Ringhof hat einen Vertrag nur für zwei Jahre abgeschlossen.  Es ist also 
klar, dass man auf dieser Basis keine dauerhafte kontinuierliche 
Bibliotheksarbeit machen kann.
 
Doch nehmen wir einmal an, man würde dem Traum von Rafael Ball folgen (Devise: 
Weg mit den Büchern!) und die Buchausleihe der öffentlichen Bibliotheken total 
auf Ebooks umstellen, so ergäbe sich folgendes Bild:
Nach der Deutschen Bibliotheksstatistik hatten, wenn ich mich da nicht vertan 
habe, die öffentlichen Bibliotheken 2014 229.077.534 Ausleihen. Bei 2 Euro pro 
Ausleihe wären also jährlich 458.155.068 Euro zu zahlen, und zwar immer wieder 
meist für die selben Bücher, wohl ohne Gewähr auf einen dauerhaften Zugriff. 
Der Erwerbungsetat der öffentlichen Bibliotheken betrug inkl. Zeitschriften und 
Einband laut DBS 2014 104.745.982 Euro. Die Bibliothekstantieme hat den Staat 
2010 pro Buchausleihe 3-4 Cent, ingesamt 11,2 Mio Euro gekostet. Unsere 
Effizienz-Experten wären natürlich trotzdem begeistert. Was man da alles 
einsparen könnte... Allerdings würde dieses Modell am Widerstand der 
Bevölkerung scheitern.
 
Dennoch hätte man nach dem dänischen Modell theoretisch von jeder öffentlichen 
Bibliothek aus, genauer mit jedem Bibliotheksausweis, den vollen Zugriff auf 
den gesamten Buchmarkt. Die Buchbranche erzielte 2014 Einnahmen von 9,32 
Milliarden Euro, ungefähr die Hälfte ging an den stationären Buchhandel. Nach 
diesem Modell würden aller Voraussicht nach sowohl die öffentlichen 
Bibliotheken als auch der stationäre Buchhandel verschwinden. Kaffeetrinken 
kann man ja auch woanders. Bibliotheken und Buchhandel würden sich in einen 
Berechtigungsausweis für den Zugriff auf den digitalen Buchmarkt verwandeln. 
Damit die Verlage ihren Umsatz von 4,74 Milliarden Euro halten können, müssten 
die Ausleihen sich verzehnfachen, was vielleicht denkbar wäre, schließlich wäre 
es ja für die LeserInnen umsonst, aber der Buchmarkt wäre weitgehend 
verstaatlicht. Ich weiß, die Zahlen sind nicht ganz komplementär, aber so 
ungefähr würde dieses völlig unrealistische Bild aussehen.
 
Beste Grüße
Peter Delin
 
Peter Delin
Ringstraße 100
12203 Berlin

Tel.: 030/81305675
Mobil: 015787311689
Mail: peter.delin@xxxxxx
https://dvdbiblog.wordpress.com/
 
 

Gesendet: Dienstag, 16. Februar 2016 um 19:52 Uhr
Von: "Walther Umstaetter" <walther.umstaetter@xxxxxxxxxxxxxxxx>
An: inetbib@xxxxxxxxxx
Betreff: Re: [InetBib] Bibliotheken ohne Bücher?
Liebe Listenteilnehmer/innen,

die Auseinandersetzung zwischen Ball, Hagner und ihren jeweiligen
Mitstreitern ist eigentlich keine Diskussion, sondern eher eine
Kriegsberichterstattung über den Kampf der Verlagslobby zur Erhaltung
des gedruckten Buches mit Scheinangriffen, taktischen Wendungen und
Frontwechseln bei Open Access. Nur es geht um Sieg oder Niederlage, aber
nicht um geistige Auseinandersetzung.

Der größte Etappensieg dabei war die juristische Festlegung: „Das E-Book
ist aber kein Buch!“ Eigentlich ein selten dummer Satz, den normale
Leser kaum verstehen können, denn wenn damit die Aussage gemeint ist:
Das E-Book ist kein gedrucktes Buch, dann fehlt das Wort „gedrucktes“,
nur um zu provozieren. Wenn damit aber gemeint ist:
Das E-Book ist kein Buch (Buch als Oberbegriff von gedruckten,
geschriebenen bzw. elektronisch gespeicherten Monographien – thematisch
begrenzten Informationseinheiten), dann ist es natürlich absurd, den
Unterbegriff vom Oberbegriff auszuklammern. Immerhin geht es hier um ein
und das selbe Dokument, mit den selben Urhebern, Aussagen und
Zitationsstellen.

Hier wird also absichtlich eine unscharfe Begrifflichkeit von Buch
gewählt, nur um bei Bedarf taktische Gewinne zu erzielen, und damit man
darüber nicht ernstlich diskutieren kann. So wurde das E-Book kürzlich
rasch wieder zum Buch, als es um die Buchpreisbindung ging. Als man noch
um die Mehrwertsteuer kämpfte, war es der Verlagslobby noch wichtiger,
das E-Book als Datei zu deklarieren, damit die Verwertungsinhaber immer
im Besitz ihrer Verwertungsrechte bleiben können, und nur Nutzungsrechte
vergeben müssen. Als Kollateralschaden bleiben zur Zeit im Kampf um das
E-Book die Bibliotheken auf der Strecke, wobei sich einige Bibliothekare
darüber noch freuen, weil auch sie der Illusion unterliegen, dass das
gedruckte Buch seine alte Bedeutung erhalten kann. Als würden nicht
täglich mehr Bücher und Zeitschriften in elektronischer Form angeboten,
um die Erde geschickt, genutzt und digital erzeugt.

Diese unscharfe Begrifflichkeit führt dann auch zu den so beliebten
Oxymoronen wie „Bibliotheken ohne Bücher“, die immer so tief geistig
wirken und an „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ erinnern. So wie auch
„Ein E-Book ist aber kein Buch.“ Insider freuen sich dann, dass nur sie
diesen Unsinn verstehen.

Das größte begriffliche Durcheinander entsteht dadurch, dass man Wissen
in Zukunft noch öfter als bisher in Computern modellieren, über
Expertensysteme automatisieren und in Lernsystemen interaktiv optimieren
kann. Natürlich sind das dann alles keine Bücher oder Zeitschriften
mehr, sondern Formen von Wissensbanken mit Inferenzmaschinen. So haben
bei einer Delphistudie (Alice Keller 2000) etliche Experten bezüglich
der Zukunft von Zeitschriften ihre Vorstellungen entwickelt, ohne daran
zu denken, dass das dann keine Zeitschriften mehr sind. Dass die Verlage
diesen Mehrwert schon für die heutigen E-Books in Anspruch nehmen, nur
weil man in den E-Books jedes Wort suchen kann, was in gedruckten
Büchern über deren Indices nur bedingt möglich ist, entbehrt nicht einer
gewissen Komik, wenn man sich daran erinnert, mit welchem Aufwand die
Verlage diese Suchfunktion, die man schon in jedem ASCII-Text benutzt,
durch die E-Book-Formate unterdrückt haben, hauptsächlich darum, damit
der Leser eines E-Books auch das gleiche Feeling wie beim gedruckten
Buch hat, wenn er vor oder zurück blättert. Im Prinzip sind doch E-Books
Simulationen der gedruckten Bücher. Auch die dreiste Behauptung, die man
wiederholt hört und liest, um E-Book-Formate zu rechtfertigen,
ASCII-Texte seien unstrukturiert, werfen die Frage auf, ob einige
Verleger die Bedeutung von Punkt, Komma etc. vergessen haben.

Schon in den klassischen Volltextrecherchen einiger Datenbanken waren
die Interpunktion eine wichtige Voraussetzung für die Recherche, die
E-Books bis heute nicht erbringen (z.B. Suche Wort A UND B im selben
Satz, Absatz etc.). Der sogenannte Mehrwert der E-Books ist somit ein
Feigenblatt, nur um Verwertungsrechte nicht veräußern zu müssen, und
etliche Juristen sind darauf reingefallen. Interessant ist dabei auch,
dass man nun in Wikipedia unter „E-Book“ den schönen Satz findet „Bis
vor wenigen Jahren kam dafür noch das PDF Format zum Einsatz.“.
Marschrichtung: Ein elektronisches Buch ist nur dann ein solches, wenn
es nicht kopiert werden kann, und wenn die Verleger die Benutzung
jederzeit abschalten können.

Bei diesem Rückblick versteht man auch, warum Laien manche Bücher auch
als Wissensbanken bezeichnen, nur weil sie den Unterschied zu echten
Wissensbanken nicht kennen. Das erinnert an Bibliotheksprojekte, in
denen so mancher Online Katalog vollmundig als Virtuelle Bibliothek
deklariert wurde, um die entsprechenden Projektgelder zu akquirieren.

Jeder weiß, dass wir heute immer öfter frei entscheiden können, ob wir
ein Buch gedruckt, auf CD-ROM oder als E-Book erwerben wollen, dass
gedruckte Bücher eigentlich nichts anderes als eine Ausgabeform der
Dateien sind, die auch als E-Book angeboten werden, und trotzdem ist es
der Verlagslobby gelungen, die Digitale Bibliothek mit Hilfe der
Juristen in ihren Privatbesitz zu bringen, und die Bibliotheken
weitgehend zu enteignen. Natürlich hat ihnen dabei der allgemeine Trend
zur Privatisierung mit GATS beim weltweiten Zusammenbruch der
kommunistischen Idee geholfen. Nun warten wir auf die ideologsche
Gegenbewegung, die sich im Kampf gegen TTIP bereits ankündigt.

Worin liegt die Definition des Buches:
„Das Buch im eigentlichen Sinne ist nach seiner Form ein nicht
periodisch erscheinendes Druckwerk mit meist hundert bis tausend Seiten,
die durch Heftung oder Leimung verbunden und durch einen Einband oder
Umschlag geschützt sind. Trotz erheblicher Schwankungen in Form und
Größe nimmt es im Regal meist weniger als 3 x 25 x 25 cm ein. Es ist
damit eine handhabbare ,Informationseinheit’. In elektronischer Form
spricht man vom E-Book.
Entsprechend der UNESCO sollte bei Büchern die Zahl von 49 Seiten nicht
unterschritten werden. Anderenfalls spricht man von einer Broschüre.“
(Lehrbuch des Bibliotheksmanagements S. 9 (2011)

Die große Bedeutung des Buches in der Geschichte der Menschheit erwuchs
aus seiner Vielfalt und Anpassungsfähigkeit an unzählige monographische
Themen mit einem oder mehreren Urhebern. Aber auch hier gibt es
verheerende Missverständnisse, weil die Verlagslobby gern von
Urheberrechten spricht, aber ihre Verwertungsrechte meint. Wie man an
den Copyrights erkennt geht es weniger um Urheber, als um Kopierrechte
und damit wissenschaftlich gesprochen um die Erzeugung von Redundanz
(und nicht um Information, wie Laien gern und oft nachbeten). Die
Einschränkung „im eigentlichen Sinne“ macht auch deutlich, dass die
Menschheit beim Umstieg von den Buchrollen, zu den gebundenen Büchern,
sich darüber im klaren war, dass der Inhalt einer Papyrusrolle,
übertragen auf ein geschriebenes bzw. gedrucktes Buch, als
Informationseinheit, gleichbedeutend ist. Auch die digitale Archivierung
erfordert, dass ein Buch ein Buch bleibt, und der weitaus größte Teil
aller Bücher kann nur noch digital archiviert werden.

Was die Verlagslobby mit allen Mitteln versucht, ist die Verhinderung,
dass Dokumente immer rascher und authentischer kopiert und an alle
Menschen in dieser Welt verbreitet werden können. Nein! Das ist nicht
ganz richtig, nur einige versuchen dafür unanständig viel Geld zu
verlangen, mit der Ausrede, sie täten es für die Urheber.

Dieser Krieg tobt nun schon seit einem halben Jahrhundert, und aus jeder
neu heranwachsenden Generation werden frische Kräfte an die Front
geschickt. Nicht selten auch Professoren und Bibliotheksdirektoren, die
für das Verlagswesen eine Lanze brechen, auch wenn sie dabei ihre
wissenschaftliche Integrität verlieren ;-)

MfG
Walther Umstätter


Am 2016-02-15 08:01, schrieb Michael Lemke:
Liebe Liste,

Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich,
hat sich ebenfalls in der NZZ zum Interview von Herrn Ball geäu8ert:
http://www.nzz.ch/feuilleton/ueber-eine-zukunftsvision-die-ein-horrorszenario-sein-koennte-1.18693786[http://www.nzz.ch/feuilleton/ueber-eine-zukunftsvision-die-ein-horrorszenario-sein-koennte-1.18693786]


einen schönen Tag,
Michael Lemke
UB Passau
 


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