[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

[InetBib] CfP LIBREAS #39: Dekolonisierung: Antirassistisch und/oder dekolonial? Bibliotheken im Spannungsfeld antirassistischer und kritischer Auseinandersetzung mit dem eigenen kolonialen Erbe



Werte Kolleg*innen,
liebe Mitglieder des LIBREAS. Vereins,

ich hoffe für die ganze Redaktion LIBREAS. Library Ideas, dass Sie / ihr gut 
ins neue Jahr gekommen sind / seid. Für diejenigen unter Ihnen / euch, die das 
übersehen haben, zeige ich gerne noch einmal an, dass die Ausgabe #38 unserer 
Zeitschrift mit den beiden Schwerpunkten "Tiere und Gewächse" und "Ein Jahr 
Libraries4Future" zwischen den Jahren erschienen ist: 
https://libreas.eu/ausgabe38/.

Informieren möchte ich Sie aber gerne vor allem über unseren neuen CfP 
"Dekolonisierung: Antirassistisch und/oder dekolonial? Bibliotheken im 
Spannungsfeld antirassistischer und kritischer Auseinandersetzung mit dem 
eigenen kolonialen Erbe" und Sie zu Beiträgen zu diesem Thema einladen. Der 
Call findet sich hier: 
https://libreas.wordpress.com/2021/01/27/call-for-papers-libreas-ausgabe-39-2-schwerpunkt-dekolonisierung/
 und am Ende dieser Mail. (Er ergänzt den CfP zum Schwerpunkt Roboter und 
Automatisierung", welcher weiterhin bis zum 30. April 2021 läuft: 
https://libreas.wordpress.com/2020/10/14/cfp-39-roboter-und-automatisierung/.) 
Betreut wird dieser zweite Schwerpunkt zusammen mit Gabriele Slezak und Sandra 
Sparber aus Wien als Gasteditorinnen sowie die Studierenden des 
LIBREAS-Projektseminars am Institut für Bibliotheks- und 
Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin.

Für die Redaktion LIBREAS. Library Ideas,
Karsten Schuldt

*******************************************************************
Call for Papers LIBREAS-Ausgabe 39, 2. Schwerpunkt “Dekolonisierung”

Antirassistisch und/oder dekolonial?
Bibliotheken im Spannungsfeld antirassistischer und kritischer 
Auseinandersetzung mit dem eigenen kolonialen Erbe
Tritt man in eine Gedächtniseinrichtung wie eine Bibliothek, ein Archiv oder 
ein Museum, betritt man einen vorgeprägten Raum. Wie und welche Inhalte dort 
gezeigt werden, ist das Ergebnis umfassender Entscheidungsketten. Diese 
Entscheidungen basieren auf einem Geflecht von Rahmenbedingungen und 
Einstellungen der Entscheidenden. Da die Entscheidungen aneinander anschließen, 
werden sie vererbt, verinnerlicht, bedingen die Regelhaftigkeit der 
Institutionen. Ein bibliothekarisches Klassifikationssystem mag über die Zeit 
modifiziert werden. Seine Grundanlage aber bestimmt bereits, ob und wie es 
modifizierbar ist. 

Die Idee des Wissens und der Ordnung, wie wir sie heute in den 
Gedächtniseinrichtungen finden und praktizieren, folgt im Prinzip 
Gestaltungsentscheidungen, die 150 oder 200 Jahre alt sind. Sie wurden in einer 
Zeit entwickelt, in der Perspektiven auf die Welt, die Menschheit, die Kulturen 
dominierten und keinesfalls Gleichwertigkeit jenseits europäischer 
Leitvorstellungen zum Ziel hatte. Sie wurden zu einem Zeitpunkt eines sich 
entfesselnden, kapitalistischen und kolonialen Expansionsdrangs verfeinert, in 
dem als positives Ziel galt, sich möglichst viel auf Erde jeweils untertan zu 
machen. Nationalismus und Imperialismus waren der narrative Rahmen, der die 
Gesellschaften im Zweifel zu großen Opfern motivieren sollte. Der Lohn waren 
das Versprechen des Wohlstands einer Kolonialwaren-Konsumkultur und das 
heimelige Gefühl einer Überlegenheit. Der Preis ist in jedem Schwarzbuch zur 
Menschheitsgeschichte dokumentiert und sprengt in seiner Dimension und 
Grausamkeit jede Vorstellungskraft.

Die Welt außerhalb europäischer, christlicher Deutungsmuster bekam in diesen 
Perspektiven keine eigene Handlungsmacht zuerkannt. Sie wurde objektiviert. Sie 
wurde etwas, das es zu erkunden, bezwingen, zähmen, kontrollieren, ordnen galt. 
Ihre Formen des Wissens wurden im besten Fall nachgenutzt, angepasst, 
dokumentiert. Was nicht passte, wurde ausgeblendet, ignoriert, ausgelöscht. Der 
Drang, die Welt zu objektivieren und kontrollierbar zu machen, zog sich 
dominant lange durch das 20. Jahrhundert. Er franste aus, hier und da 
entwickelten sich Alternativen. Seine Dekonstruktion erfolgte aber bis heute 
fast nur diskursiv, intellektuell, narrativ. Vieles in den Strukturen ist nach 
wie vor näher an der Zeit, in der “Völkerschauen” als völlig normal galten, als 
uns lieb ist. Mehr noch: Im digitalen Raum wiederholen sich genau diese 
Prozesse. Die Künstliche Intelligenz trainiert mit den tradierten Korpora und 
übernimmt damit die etablierten Muster. Ein historisches Bewusstsein kennt sie 
naturgemäß nicht. Und es ist, wie aktuell der Fall Timnit Gebru zeigt, auch bei 
denen, die über die digitalen Strukturen entscheiden, nicht unbedingt 
vorauszusetzen. Es ist keine gerade Entwicklungslinie, aber die Randständigkeit 
ethischer und historischer Reflexion bei der Entwicklung des technisch 
Machbaren setzt vieles von dem, was wir in öffentlichen Verlautbarungen als für 
überwunden verkünden, schließlich doch mit zeitgemäßen Mitteln neu auf.

Bibliotheken müssen sich wie alle Gedächtniseinrichtungen und eigentlich alle 
Institutionen der Frage stellen, wie in ihnen exkludierende, rassistische, aus 
der Zeit und der Logik des Kolonialismus stammende Muster nachwirken und was 
dies für ihre Gegenwart bedeutet. Das Ziel der Inklusivität, die 
diskriminierungsfreie Ausrichtung findet abstrakt weithin Zustimmung. Wenn es 
gut läuft, werden hier und da Sonderprogramme aufgelegt, die aber teils bereits 
durch ihren “Sonder”-Status Ein- und Ausgrenzungen in Gestalt einer nun 
wohlwollenden Diskriminierung reproduzieren. Solange die Entscheidungs- und 
Steuerungshoheit bei tradierten Akteur:innen und ohne Hinterfragen der 
scheinbar selbstverständlichen Rahmenbedingungen verbleibt, führt dies nicht zu 
einer Anerkennung auf Augenhöhe. Man baut Brücken. Aber ist man dabei auch 
bereit, das Gegenüber als das zu akzeptieren, als das es sich zeigt? 

Wir müssen damit leben, dass wir aus einer bestimmten Entwicklungslogik nicht 
retrospektiv ausbrechen können. Die Geschichte ist unhintergehbar. Daraus 
ergibt sich zugleich die Verantwortung, sie differenzierend zu verstehen und 
aus ihr zu lernen. Wir werden die Gedächtniseinrichtungen nicht retrospektiv 
dekolonisieren können. Was wir aber als Aufgabe einer engagierten 
Bibliothekswissenschaft sehen, ist, die Bibliotheken als unsere 
Bezugsinstitutionen auf die Herausforderungen der Gegenwart hin zu reflektieren 
und Gestaltungsmöglichkeiten für eine Zukunft zu entwickeln, die sensibel, 
differenziert und entschieden eine integrative, grundierende, ausgleichende 
Rolle übernimmt. 

Im Grunde geht es darum, das konsequent zu leben, was man vorgibt zu tun. Dazu 
zählt, in einem ersten Schritt zu verstehen wo man herkommt und warum man so 
ist, wie man ist. Es gilt, dafür sensibel zu werden, wie und wo 
diskriminierende Effekte nach wie vor wirken. Es gilt, verstehen zu lernen, 
warum sich Teile der Community, die man eigentlich zu repräsentieren vorgibt, 
nicht repräsentiert fühlen. Wenn die eigenen Denk- und Vorstellungsmuster 
dekonstruiert werden, bedeutet das nicht, dass man sie komplett verwerfen muss. 
Aber man wird dann Entscheidungen erklären müssen. Die Verschiebung, die wir 
aktuell in zahlreichen Diskursen beobachten und die auch dem Bibliothekswesen 
gut tun wird, führt dahin, dass bisher unhinterfragte Konstellationen der 
Macht, der Deutung, der Entscheidung, einer ausdrücklichen Re-Legitimierung 
bedürfen.

Im zweiten Schritt nach der Ent-Selbstverständlichung geht es darum, 
Alternativen zu denken. Das Gute ist: Es gibt Vorarbeiten. So bietet das 
postkoloniales Konzept der ‘colonial library’ des kongolesischen Philosophen 
und Intellektullen V[alentin]- Y[ves] Mudimbe ein Analyseinstrument, um zu 
(hinter)fragen, ob und wie Bibliotheksarbeit im heutigen Kontext genutzt werden 
kann, um sich Konzepten einer kolonial-rassistischen Wissensordnung zu 
widersetzen. Laut Mudimbe bezieht sich das auf alle Texte und epistemologischen 
Ansätze, die afrikanische Gesellschaften als ein Symbol der Andersartigkeit 
(otherness) und Unterlegenheit (inferiority) konstruierten (Mudimbe, 1988: 
98–134). Wo das erkannt wird, können Schritte unternommen werden, um eine Erst- 
oder auch Wiederaneignung von alternativen Wissensbeständen einzuleiten, die 
einen Kontrast zur kolonialen Bibliothek bilden würden. Eine solche Debatte 
eröffnet die Möglichkeit, über diese Herausforderung zu sprechen und verstehen 
zu lernen, welche Perspektivwechsel in der antirassistischen Bibliotheksarbeit 
möglich und notwendig sind. Die Enthomogenisierung unser Vorstellungen von 
Leitkultur, die Diversifikation von Möglichkeiten, zugleich immer auch die 
Schaffung und Erhaltung von Optionen für eine wechselseitige Verständigung – 
das könnte im Kern der postkolonialen, antidiskriminierenden, antirassistischen 
Bibliothek stehen. Rassismuskritisches Denken und Handeln befähigt uns, die 
komplexen Verschränkungen von institutionellem und strukturellem Rassismus zu 
decodieren. Ein uneingeschränkter Humanismus mit dem Ziel einer 
diskriminierungsfreien Gesellschaft ist eine Utopie. Dieser so nah wie möglich 
zu kommen liegt in unserer Verantwortung. Das Bewahren und Zeigen von Kultur in 
ihrer Breite anstatt eines restriktiven Strebens nach Ordnung und Kontrolle 
könnte Kern der Arbeit von Gedächtniseinrichtungen sein. Überlieferung wird 
nicht getilgt, aber vernetzt, erklärt und kritisch vermittelt.

Call for Papers 2. Schwerpunkt Ausgabe 39: Fragen
Für die kommende Ausgabe von LIBREAS suchen wir Beiträge, die sich mit der 
Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft von Gedächtnisorganisationen und 
Prozessen der Ordnung des Wissens, Diskursen und Wissensträgern aus der 
Perspektive einer Dekolonisierung auseinandersetzen.
* Wir suchen die Spuren von Kolonialismus und Rassismen, die sich bis heute in 
den Strukturen und der Arbeit von Bibliotheken erhalten und die sich 
möglicherweise in digitalen Wissens- und Kommunikationsstrukturen 
reproduzieren. 
* Wir möchten erfahren, wer sich aus welchen Blickwinkeln mit Fragen der 
Dekolonisierung, der Diversifizierung, der Alterisierung in und von 
Bibliotheken befasst.
* Wir suchen Best-Practice-Beispiele für Inklusions- und Öffnungsprozesse.
* Wir wollen Handlungsoptionen (und Utopien) zur Frage diskutieren, wie die 
Ordnungsmechanismen von Machtdiskursen durchbrochen werden können und wie 
epistemische Gewalt in öffentlichen Einrichtungen thematisiert werden kann.
* Und schließlich möchten wir gern auch die genuine Perspektive der 
Bibliotheks- und Informationswissenschaft betrachten und fragen, wie 
informationsethische Modelle, Methoden und Theorien am Schnittpunkt zu 
postkolonialen Forschungsfragen anwendbar sind.
Einreichungen
Die Redaktion der LIBREAS. Library Ideas, die Gasteditorinnen Gabriele Slezak 
und Sandra Sparber aus Wien sowie die Studierenden des LIBREAS-Projektseminars 
am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der 
Humboldt-Universität zu Berlin sind offen für direkte Einreichungen, aber auch 
für die Diskussion von Ideen für Beiträge. Formen und Inhalt sind wenig 
beschränkt, diese Einschränkungen sind in den Hinweisen für Autor*innen 
(https://libreas.eu/authorguides/) zu finden. Deadline ist der 30. Juni 2021. 
Kontakt: redaktion@xxxxxxxxxx / https://twitter.com/libreas

Eure LIBREAS-Redaktion 
Aarhus, Berlin, Hannover, Lausanne, München, Wien

(Dieser Call for Papers entstand im Rahmen des LIBREAS-Projektseminars am 
Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität 
zu Berlin im Wintersemester 2020/2021 und wurde von Ester Barseghyan, Lina 
Feller, Katharina Foerster-Kuntze, Fatima Jonitz, Amber Kok, Valentina de 
Toledo erstellt, begleitet und koordiniert.)


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.