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Re: [InetBib] Grundsätzliche Frage



Lieber Herr Koch,

ich danke Ihnen für diese Grundsatzfrage. Als Ostdeutscher der in einem System 
aufwuchs, in dem die freie Meinungsäußerung teilweise sanktioniert wurde, kann 
ich diese Zuschreibung einer Cancel Culture nicht unkommentiert stehen lassen.

Ist es wirklich zutreffend, dass in der Bibliothekswelt ein Binnenklima 
kultiviert wird, " in dem offenbar manche Leute Angst haben, in großer Runde 
und zu allen Themen frei ihre Meinung zu äußern"? Gibt es Kolleginnen oder 
Kollegen, die nach ihrer freien Meinungsäußerung mit beruflichen Nachteilen 
konfrontiert wurden? Oder ist diese Angst nicht eher auf die individuelle 
Persönlichkeit zurückzuführen?

Nicht jeder von uns wagt die öffentliche Auseinandersetzung mit anderen 
Standpunkten, die als "Mehrheitsmeinung" betrachtet werden. Das ist erst einmal 
ok. Ohne diese Meinungsäußerung kann dieser Standpunkt dann aber leider auch 
nicht in den öffentlichen Meinungsbildungsprozessen berücksichtigt werden. 
Grollend neben der Arena zu stehen bzw. unter Decknamen Debattenbeiträge 
anstoßen zu wollen und dabei befürchtete berufliche Nachteile vorzuschieben, 
bringt den Diskurs keinen Schritt weiter. Ein solches Verhalten birgt noch 
weiter gedacht die Gefahr, grundsätzlich das Vertrauen in diese sozialen 
Aushandlungsprozesse zu untergraben. Und das können wir uns nicht leisten.

In diesem Sinne Junia des Esseintes: Ich setze mich gerne mit Ihren Argumenten 
auseinander, um mir eine eigene Meinung bilden zu können. Ohne das Wissen von 
wem und ggf. mit welchen Interessen derartige Debattenbeiträge eingebracht 
werden, ist mir das leider nicht möglich.

Mit besten Grüßen
Michael Wohlgemuth

 




-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: InetBib <inetbib-bounces@xxxxxxxxxx> Im Auftrag von Stefan Knoch via 
InetBib
Gesendet: Freitag, 13. Mai 2022 10:50
An: inetbib@xxxxxxxxxx
Betreff: [InetBib] Grundsätzliche Frage

Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen,

nachdem nun eine Woche ins Land gegangen ist und hier noch niemand eine Frage 
gestellt hat, die sich zumindest mir regelrecht aufdrängt, greife ich nun 
selbst zur Tastatur.

Am Donnerstag der vergangenen Woche hat eine Kollegin (oder ein Kollege?), die 
sich Junia des Esseintes nennt, hier zu Protokoll gegeben, daß sie berufliche 
Nachteile befürchtet, wenn sie unter Klarnamen ihre Meinung auf Inetbib 
vertritt. Mir geht es jetzt nicht um das Thema, das die Kollegin in ihrer 
E-Mail behandelt, mir geht es vielmehr um etwas ganz Grundsätzliches - und dies 
umso mehr, als mir diese Kollegin kein Einzelfall zu sein scheint: Als ich mich 
nämlich im vergangenen Jahr zum selben Thema kritisch geäußert habe, erhielt 
ich mehrere zustimmende Rückmeldungen direkt an meine E-Mail-Adresse, deren 
Verfasser sich nicht trauten, diese ihre Zustimmung über den Inetbib-Verteiler 
kund zu tun.

Da stellt sich mir (und hoffentlich auch anderen) eine ganz grundlegende Frage: 
Wie paßt es zusammen, daß eine Berufsgruppe, die einerseits besonders 
nachdrücklich für Toleranz, Vielfalt und gegenseitigen Respekt eintritt, 
andererseits ein Binnenklima kultiviert, in dem offenbar manche Leute Angst 
haben, in großer Runde und zu allen Themen frei ihre Meinung zu äußern?

Viele Grüße

Stefan Knoch


Dr. Stefan Knoch
Stellvertreter der Bibliotheksdirektorin Staatsbibliothek Bamberg Neue 
Residenz, Domplatz 8, 96049 Bamberg
Telefon: 0951 / 95503-114




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