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Re: Internet-Realitaet in Bibliiotheken



Du meintest am 29.06.94 um 16:33 zum Thema "Re: Internet-Realitaet in
Bibliiotheken":

> Vielleicht dadurch, dass sie am Ende selbst mit Nachdruck darum
> bitten, endlich nicht mehr bei der Zuteilung von E-mail-Adressen
> uebergangen zu werden, weil sie merken, was Ihnen entgeht. Vielleicht
> dadurch, dass sie sich am Ende doch einmal vertraut machen mit der
> Fuelle von Moeglichkeiten, die ein ordentliches Postsystem (Du
> verstehst mich, aber sagen wir es auch fuer den Rest der Runde
> verstaendlich: "mailing system") bietet. Vielleicht dadurch, dass am
> Ende selbst Bibliotheksdirektoren, Universitaetsleitungen,
> Personalraete, Gewerkschaften und Hochschulgruppen entdecken, wie sehr
> zB. die Einrichtung von Diskussionsrunden und Nachrichten-Gruppen
> ("news groups") geeignet sind, traditionelle Formen der Information
> und des Meinungsaustausches und der Meinungsbildung abzuloesen und
> durch effektivere Instrumente zu ersetzen.

Hallo Heinrich,

ich habe als Student (also bis vor einem Jahr) die Interneteinfuehrung an
der Abteilung fuer medizinische Informatik mitverfolgen koennen, die das
Internet fuer alle interessierten Angehoerigen des Klinikums Goettingen
(incl. Bereichsbibliothek Medizin) zur Verfuegung stellt. Parallel dazu
befand (befindet) sich das universitaetsweite CD-ROM Netz im Aufbau.
             Die Bereitstellung der CD-ROM in der medizinischen Bibliothek
scheitert(e?) ueber Monate an irgendeinem Verwaltungswirrwar, also etwa
der Frage, welche Abteilung uebernimmt die Kosten. Auch die Auswahl und
Installation der technischen Loesung zogen sich wegen Personalmangels hin.
Natuerlich haben die forschungsintensiven Abteilungen des Klinikums nicht
so lange gewartet, sondern laengst Einzelplatzversionen (Medline von
Silver Platter) von der Stange gekauft, so dass die Abteilungsbibliotheken
'mal wieder besser als die medizinische Hauptbibliothek ausgestattet waren
(und wahrscheinlich noch sind).
Der Internetanschluss ist von den studentischen freaks verschiedener
Fachbereiche mit aufgebaut und perfektioniert worden (eigener gopher) und  
wird ueberwiegend von Studenten und jungen Aerzten genutzt.
Also: neue Techniken setzen sich schnell durch, wenn sie wirklich gewollt
werden, also unter (Publikations- und Karriere-)_Druck_ oder bei
ausgepraegtem Spieltrieb.
Dieser Innovationsdruck scheint die Bibliotheksangestellten und ihre
Leiter ganz ueberwiegend noch nicht erfasst zu haben.
Warum sollen sie z. B. Medline billig ueber Internet und Compuserve nutzen
(oder DIMDI statt ueber Datex P uebers ohnehin von der Uni bezahlte
Internet), solange die Bibliothek die Kosten an die Nutzer weitergeben
kann?
Gleiches gilt fuer document delivery: Warum sich mit dem Markt
auseinandersetzen, wenn man eine Loesung hat, die funktioniert, solange
die Kosten weitergegeben werden koennen?
In Goettingen ging das bis zur Buch- und Zeitungsbeschaffung (zumindest
dort, wo ich es beurteilen kann, in der Zahnmedizin): Ueber Jahre
aeusserst zaeh (bis ein neuer Leiter, von Hause aus Zahnarzt, kam), weil
offensichtlich die Profs keinen Druck machten und die Buecher, die sie
wollten, in ihre Abteilungsbibliothek oder auf ihren eigenen Schreibtisch
stellten. Anschaffungswuensche von normalen Bibliotheksnutzern (wie mir)
blieben ungehoert, die Beschaffungspolitik blieb voellig undurchsichtig.
         Insofern, Heinrich, ist Dein oben zitiertes Appellieren an das
Eigeninteresse der Bibliotheksangestellten realistisch, wenn auch fuer
eine Serviceeinrichtung etwas traurig.

Das _Warten_ auf formelle Fortbildungsangebote, am besten bezahlt bei
Dienstbefreiung, hielte ich fuer beamtentypisch (mein Papa ist einer): Ich
habe als Student wie als angestellter Zahnarzt, der ich zur Zeit bin, mir
Geraet (=technische und finanzielle Minimalloesung: PC 486 SX, 4 MB RAM,
240 MB HD) und Know How selbst angeschafft, wobei die hilfreichen
Studenten des Computerraumes am Anfang am wichtigsten waren, weil sie mir
online ein einfuehrendes Werk uebers Netz besorgten (gibt es heute im
Buchladen) und mir bei technischen Schwierigkeiten halfen. Internet ist
doch learning by doing, eine permanente kollektive Lernveranstaltung und
ein Gespuer fuer die bibliotheks- (oder verwaltungs-) untypische Dynamik
dieses staendigen Provisoriums bekommt man am besten beim Mitmachen.
Wenn sich in Sachen Internet in den Bibliotheken laengst nicht so viel
bewegt, wie es sich koennte, zeigt das, meine ich, nur einmal mehr, dass
weite Teile der Universitaeten von professoralen Beamten dominiert werden
und daher phlegmatisch und innovationsfeindlich sind.

Auf der anderen Seite waren aus irgendeinem Programm Mittel im Ueberfluss
vorhanden, Spielgeld fuer die freaks, um den Computerraum (CIP-Raum) im
Klinikum einzurichten. Dort stehen nun Workstations fuer hunderttausende  
DM herum, die ausser von der erwaehnten Minderheit kaum genutzt werden und
bald wieder veraltet sind.
Fuer mich ist diese Fehlallokation von Mitteln typisch fuer eine
oeffentliche Einrichtung.
Kein Unternehmer wuerde teure Investitionen taetigen, wenn er nicht davon
einen konkreten Nutzen erwarten wuerde, und klar waere ihm auch, dass die
Einfuehrung neuer Techniken dazu fuehrt, eigene Arbeitsablaeufe zu
aendern, Kompetenzen zu verschieben oder Personal fortbilden zu muessen.
Falls ein Unternehmer dies versaeumt, werden ihm seine Angestellten auf
die Fuesse treten, weil sie wissen, dass mit neuen Techniken auch deren
Bewaeltigung und hoehere Produktivitaet von ihnen verlangt wird. Sie
wissen auch, dass, wenn sie das nicht leisten, sie Status- oder
Arbeitsplatzverlust hinnehmen muessen. Von daher haben sie ein
Eigeninteresse an Fortbildung und werden nicht _warten_.

In dem von mir beschriebenen Fall, und ich denke, die Teilnehmer der Liste
koennten noch andere beisteuern, kann die eine Abteilung (Bibliothek) die
von der anderen Abteilung (medizinische Informatik) aufgegriffene
Technologie weitgehend ignorieren, weil der eigene Status kurz- und
mittelfristig gesichert bleibt, egal wie innovationsfreundlich man ist.

Langfristig macht sich eine zentrale Einrichtung wie die Bibliothek eher
ueberfluessig, wenn sie so schlafmuetzig ist. Wo soll sie Alliierte bei
den laufenden Mittelkuerzungen finden, wenn sie nicht bessere
Dienstleistungen als die erwaehnten Teilbiliotheken anbieten kann, neue
Techniken und Dienstleistungen also frueher als eine Abteilung des
Klinikums oder als ein Fachbereich anbietet?

Konkret:
Lehrbuecher in Bibliotheken sind meistens veraltet, wofuer braucht der  
(Medizin-) Student die Bibliothek (ausser als ruhigen Paukraum)?
Ich lese mittlerweile die abstracts von Zeitschriftenartikeln zuhause
online und beschaffe Artikel ueber Fernleihe. Wofuer brauche ich noch eine
Bibliothek?
Letzteres ist, denke ich, schon in einer Reihe von Instituten Praxis (via
current contents). Hat also die Bibliothek nicht bereits Boden verloren,
den sie kaum wieder gutmachen kann?
Ich wuerde von der Bibliothek ein aggressives Marketing (nicht nur) ihrer
Onlinekompetenzen erwarten, um der CD-ROM Konkurrenz zu machen und dafuer
jeden Preisvorteil versuchen wahrzunehmen.
Der ehemalige Kern der Bibliothek, der Bestand, wird durch globales
document delivery immer unwichtiger werden.
Vermarkten liesse sich vielleicht Informationsbroking. Ein Bibliothekar  
koennte den Studenten ueber die Auswahl seiner ersten Lehrbuecher, ueber  
die Zusammenstellung und Bewertung der Literatur fuer Diplom und Promotion  
und spaeter, und da wird es dann vielleicht lukrativ, z. B. als  
Angestellten einer mittelstaendischen Firma, lebenslang informationsseitig  
betreuen. Nicht nur beim Finden von gesuchten Informationen, sondern als  
Wachhund fuer Innovationstrends und bei der Bewertung von Innovationen.  
Aerzte z. B. sind doch heute weitgehend inkompetent, was die Beurteilung  
neuer Studien angeht. Die fruehe Bindung der spaeteren Klientel waere ein  
schoener Wettbewerbsvorteil.
Aber der Markt ist eng: Es tummeln sich Firmenvertreter und  
Fortbildungsinstitute, oft in der Traegerschaft von Aerztekammern, die die  
Wuensche ihrer Kunden, die sich beim Uebergang von Universitaet zur Praxis  
rasch radikal wandeln, sehr genau kennen. Dort koennten sich in Zukunft
Arbeitsplaetze fuer Bibliothekare auftuen.

Gruesse

M.


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