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Re: "Bibliothekare zur R-Reform"



On 19 Jul 04, at 19:42, Manfred Thaller wrote:

> Lieber Herr Eversberg,
> glauben Sie nicht, dass Sie die Dinge hier wirklich um mindestens eine
> Etage zu hoch hängen?
Da bin ich in keiner schlechten Gesellschaft, wenn man die Aeusserungen der
letzten Wochen betrachtet.

> Ich habe vor relativ kurzer Zeit drei Jahre in Norwegen gelebt. In
> Norwegen ist die zentrale "linguistische Instanz", der "spraakraad"
> ("Sprachrat") per Satzung dazu verpflichtet, sich der Propagierung
> "linguistischer Toleranz" auch und vor allem im Alltagsleben zu widmen.
> Es gibt - verkürzend - nahezu nichts Norwegisches, das Sie nicht auch
> anders schreiben können.
Das ist interessant. Und wie arbeitet dieser Sprachrat? Konfrontiert er die
Öffentlichkeit, an allen demokratischen Instanzen vorbei und im Verein mit
einem
bürokratischen Komplott, mit selbst ausgedachten Neuregelungen? Redet er von
Erfolg, wenn die Akzeptanz unter 20% liegt? Ignoriert er fundierte Kritik?
Aber im Ernst: Norwegen hatte seit langem zwei Schriftsprachen, wie Sie
natürlich
wissen, Bokmål und Nynorsk. Die Vermittlung zwischen beiden hat zu ganz
andersartigen schriftsprachlichen Problemen und Lösungen geführt als wir sie
haben, und ein anders wickeltes sprachliches Feingefühl ist dabei gewiß
herausgekommen. Gegen einen Sprachrat, der aufs Volk und auf fundierte
Einsichten
hört, gegen den hätte ich freilich nichts.

> Es gibt durchaus Autoren, die gezielt von der Orthographie abweichen, um
> mit der Graphematik gezielt zu spielen.
Dafür ist auch Arno Schmidt berühmt geworden und sein Einfluß auf z.B. die
Sprache des SPIEGEL ist bekannt. Was aber nicht zu einer allgemeinen
Lockerung
orthographischer Usancen geführt hat. Das hat erst die Reform geschafft, mit
gezielten Spielereien.

> Tut mir leid, aber m.E. hat die Orthographie mit dem "geistigen
> Arbeiten" ungefähr soviel zu tun, wie ... ein klug ausgedachtes Layout
> vielleicht, das in der Hand des Könners auch eine ganze Menge
> Information transportieren kann? (Jandl, z.B.)
Ich denke schon, daß hier einige Meinungen auseinandergehen. Ein
Rechtfertigung
für mutwillige, dilettantische und kurzsichtige Eingriffe, und darum geht es,
liegt hier aber keinesfalls.

> Sorry, meine ursprüngliche akademische Disziplin ist die Geschichte und
> vor diesem Hintergrund verstehe ich den Absatz einfach nicht. Dass
> Goethe dadurch abgewertet wurde, dass seine Werke von Zeit zu Zeit
> neueren Schreibungskonventionen angepasst wurden, ist mir neu;
Um Goethe geht's nicht. Mir wurde zugetragen, daß in öffentlichen oder
Schulbibliotheken schon Ansichten laut wurden, man sollte Bücher aussondern,
die
keinen anderen Nachteil als den einer "veralteten" Schreibung aufweisen.

> Aber: Sind Sie wirklich sicher, dass Sie hier an der richtigen
> Front kämpfen? Wenn Sie sich neuere Texte zum Information Retrieval
> ansehen - Ricardo Baeza-Yates & Berthier Ribeiro-Neto, Modern
> Information Retrieval, z.B., immerhin sowas Ähnliches wie das offizielle
> Lehrbuch der ACM, ist mein Lieblingsbeispiel - stellen Sie fest, dass
> zwar am Anfang Precision and Recall nach wie vor brav definiert werden,
> dass aber der Text, je mehr er sich von den Grundlagen den neueren
> Entwicklungen zuwendet, immer stärker betont und / oder zugibt, dass
> diese alten Konzepte NICHT geeignet sind, um zu beschreiben, was wir im
> Umgang mit neueren Informationssystemen in den letzten Jahren beobachtet
> haben.
>
Da steht immer die sachliche Suche im Vordergrund, die
"Entdeckungsrecherche".
Hier müßten wir über die SWD reden, was mein Anliegen jetzt nicht ist.
Meine Einwände beziehen sich aber auf den "Known-item search", auf die
"Erinnerungsrecherche". Man muß beides auseinanderhalten. Zwar hat sie wohl
für
Endnutzer einen geringeren Stellenwert, aber sie bleibt in jedem Fall
notwendig,
nicht nur für Bibliothekskataloge. Hier brauchen wir hohe Präzision. Und sie
wird
schlechter, je mehr Unterschiede der Schreibungen es gibt.
Wenn "precision" kein geeigneter Term ist, moderne Entwicklungen zu
beschreiben,
das heißt doch überhaupt nicht, daß wir keine mehr BRAUCHEN! Nur: bei
sachlicher
Suche ist sie eh und je schwer zu bestimmen (auch weil teilweise subjektiv),
bei
formaler aber leicht.
Hinsichtlich "Entdeckungsrecherche" arbeitet das eine System so und das
andere
anders, da hat man mit großen Unterschieden zu leben, die der Entnutzer nicht
durchschaut. In der "Erinnerungsrecherche" ist es von großem Vorteil, wenn
man
wissen kann, welche Suche zum sicheren Ergebnis führt. Deshalb gibt es die
Bestrebungen zur Vereinheitlichung der OPAC-Indexierung. Hier kann es nur um
Methoden des Zeichenketten-Abgleichs gehen, anders kommt keine
Vergleichbarkeit
und Durchschaubarkeit zustande, und Instrumente wie der KVK und
katalogübergreifende Zugriffe sind auf solche Vergleichbarkeit angewiesen.
Aber wie sieht's in Norwegen damit aus? Wie sehen dort überhaupt Buchtitel
aus?
Bunt gemischte Schreibweisen? Zweite Auflage so und dritte wieder anders,
alles
kein Problem? Dann her mit der norwegischen Software!

> aber für eine fast schon zivilisationskritische
> Fundamentalopposition scheint mir eine durchaus angreifbare Konzeption
> von "unveränderlichen" IR Gesetzmäßigkeiten dann doch nicht ausreichend.
>
Auf grobe Klötze gehören grobe Keile. Das gestern zitierte Papier von Prof.
Stetter (Aachen) haut in dieselbe Kerbe.

MfG B.E.


Bernhard Eversberg
Universitaetsbibliothek, Postf. 3329,
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