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Berliner Bibliotheksgeschichte(n)



Liebe Bib-Liste,

zur allgemeinen Erbauung und zur Einstimmung auf tiefsinnige Diskussionen
an
lauen Frankfurter Vorsommerabenden ein Artikel von Jens Bisky, der am am 
27.5.98 in der Berliner Zeitung zu lesen war:
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Datum: 27.05.1998, Ressort: Feuilleton
Autor: Jens Bisky

Wolkenkuckucksheime der Virtualität
Berliner Bibliotheksverbund droht zu scheitern 

Von der Freude am Riesenhaften will man im Senat nicht lassen.
Noch vor einem halben Jahr galt die Größe des Vorhabens als 
Argument für seine Vortrefflichkeit.
Heute wird der bundesweit einmalige Umfang des Unternehmens betont, 
um Fehler zu entschuldigen, die gemacht wurden, als man vor zwei Jahren
begann,
die öffentlichen Bibliotheken Berlins zu einem EDV-gestützten Verbund
zusammenzufassen.

Die Verbindung von Großsprecherei und Dilettantismus dürfte ebensoviel 
zum Scheitern beigetragen haben wie die Neigung, nur Teile des Problems zu
sehen, 
und die Weigerung, Pannen und Fehlentwicklungen rechtzeitig einzugestehen.

Daß ein Verbundsystem nicht nur sinnvoll, sondern unabdingbar ist, 
wird keiner bestreiten können. Nachdem die Einführung von
Informationstechnik 
in Berlins Bibliotheken jahrelang verschlafen wurde, ist es an der Zeit, 
wenigstens bundesrepublikanischen Standard herzustellen.
Viele Bezirksbibliotheken arbeiten noch mit einem antiquierten
Fotoverbuchungsverfahren, 
für das man Lochkarten benötigt, die nicht mehr hergestellt werden.
Je geringer die Anschaffungsetats ausfallen, desto notwendiger wird es, 
die Bibliotheken zu vernetzen und den Lesern einen schnellen Zugriff auf
die 
umfangreichen Bestände in Berlin zu ermöglichen.

Ein Verbundsystem könnte zudem die Verwaltung der Leserdatei und das
Katalogisieren 
erleichtern. Eine Neuausgabe von Goethes "Werther" müßte nicht mehr in 
23 Bezirksbibliotheken und der Zentral- und Landesbibliothek (ZLB) parallel

katalogisiert werden, könnte man auf einen Eintrag im Verbund
zurückgreifen. 

Häufige Terminverschiebungen 

Am 30.Mai 1996 unterzeichnete der Staatssekretär für Wissenschaft und
Kultur Prof.
Thies mit der Firma BB-Data, damals Tochter der Berliner Bankgesellschaft, 
einen Vertrag und beauftragte sie als Generalunternehmer, Soft- und
Hardware 
für den Verbund der öffentlichen Bibliotheken Berlins (VÖBB) zu liefern.

Vier Stufen waren vorgesehen: Katalogisierung und OPAC, Erwerbung,
Benutzung 
und Zentrale Dienste.
Mit der Entwicklung der notwendigen Software wurde die Firma aStec GmbH
beauftragt. 
aStec ist darauf spezialisiert, Software für einzelne wissenschaftliche
Bibliotheken 
maßgeschneidert zu entwickeln, Erfahrungen mit Verbundsystemen hatte die
Firma nicht.

Terminverschiebungen wurden zur Regel. Längst sollten die zwei Pilotbezirke

Wilmersdorf und Reinickendorf das Verfahren erproben, sechs weitere Bezirke

angeschlossen sein.
Aber auch der im November 1997 überarbeitete Zeitplan wird nicht
eingehalten.
Nach desaströsen Tests wurde der Pilotbetrieb in Wilmersdorf ausgesetzt.
Gegenwärtig läuft eine Projektrevision, die Anfang Juni abgeschlossen sein
soll.
Daß die Firma BB-Data die Kosten dieser Revision übernimmt, mag als Indiz
des 
schlechten Gewissens gelten.

Der Mißerfolg hat viele Facetten, von denen nur einige benannt werden
sollen.

Unabhängig von der Software wurde Hardware geliefert, was bei den rapiden
Veränderungen 
im Preis-Leistungs-Verhältnis nur Verschwendung genannt werden kann.
Die Bezirke haben mit großem Aufwand Voraussetzungen für die Einführung des

VÖBB geschaffen.
An der ZLB arbeiten fünf Mitarbeiter für die Verbundzentrale, eine Stelle
wurde 
für Katalogisierungsaufgaben freigemacht.
Insgesamt sind 20 Mitarbeiter mit Vorarbeiten beschäftigt.

Obwohl bereits mehr als vier Millionen Mark an die BB-Data gezahlt worden
sind, 
kann bis heute kein Leser und kein Bibliothekar Leistungen des VÖBB nutzen.
Daher sind die Bibliotheken gegenwärtig mit den Kosten für die veralteten
Verfahren 
und den Entwicklungskosten für den VÖBB, dessen Zukunft in den Sternen
steht, 
zugleich belastet.

Die Abstimmung zwischen BB-Data, Bezirken und Verwaltung funktionierte nur
schlecht.
Zumindest dilettantisch erscheint das Projektmanagement durch die
Senatsverwaltung.
Der zuständige Referent, Klaus Kröplin, gibt zu, daß man sich anfangs vom 
"eigenen Überschwang" habe "hinreißen" lassen und daß die Projektrevision 
"möglicherweise zu spät" eingeleitet wurde.

Das große Projekt hat der Senat nicht angemessen kontrolliert, die
Beteiligten 
nur unzureichend informiert.
Erst im Februar 1998, als schon mehrere Krisensitzungen stattgefunden
hatten, 
gab die Senatsverwaltung zögernd das Problem zu und sprach davon, daß
BB-Data 
und Senat die Komplexität der Aufgaben unterschätzt hätten.
Dies heißt wohl, daß die bisherigen Entscheidungen auf falschen Prämissen
beruhten.

Stillschweigend wurden die Voraussetzungen des Vertrags mit BB-Data
geändert.
Von einem einheitlichen Bibliotheksausweis in Form einer Chipkarte ist
nicht mehr 
die Rede, obwohl das Angebot, solche kostenlos zur Verfügung zu stellen, 
1996 entscheidend war, als BB-Data den Zuschlag erhielt.
Über eine Reduktion des geplanten Leistungsumfangs wird nachgedacht.

Die Stufe 4 des VÖBB bringt man nun mit dem Kooperativen Bibliotheksverbund

Berlin-Brandenburg (KOBV) in Zusammenhang.
Er wird vom Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik Berlin (ZIB)
entwickelt 
und soll die wissenschaftlichen Bibliotheken über das Internet und eine 
Suchmaschine verbinden.
Nachdem die wissenschaftlichen Bibliotheken anfangs mit BB-Data kooperieren
wollten, 
sind sie nun auf eine andere Software umgeschwenkt.
Gegenwärtig laufen Verhandlungen mit der israelischen Firma ExL.
Auf die Frage, wie die Zusammenarbeit von VÖBB und KOBV sichergestellt
werden soll, 
wußte Klaus Kröplin keine Antwort. 
Während es in vielen öffentlichen wie wissenschaftlichen Bibliotheken am
Nötigsten fehlt, 
leistet sich Berlin die kostspielige Entwicklung von zwei Verbundsystemen,
die jedes 
für sich an Größe und geplantem Leistungsumfang "Weltniveau" haben sollen.

Ursprünglich sollte das Deutsche Bibliotheksinstitut (DBI) den Verbund 
Berlin-Brandenburg betreuen.
Entgegen einer im April 1994 unterzeichneten Vereinbarung beteiligte sich
Berlin 
jedoch nicht am DBI-Verbund, dem Bayern, Baden-Württemberg und
Nordrhein-Westfalen angehören.
Statt die funktionierende Verbundzentrale zu modernisieren, entschied man
sich 
für Wolkenkuckucksheime der Virtualität.

Eine Entscheidung über die Zukunft des DBI steht noch aus.
Der KOBV soll dessen Daten übernehmen.
Doch auch beim KOBV gibt es bereits Terminverzug von einem Jahr.

Revision überfällig

Arnold Krause, für Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus, hält den
Vertrag mit 
BB-Data, inzwischen im Besitz einer Tochter der Berliner Wasserbetriebe,
für 
"vollständig gescheitert".

Wenn es auch ein Ende mit Schrecken sei, müsse er gekündigt, das
"Pleiteprojekt" beendet 
und ein neuer Anfang gemacht werden.

Ein Verbund der knapp 800 Bibliotheken Berlins mit ca. 40 Millionen Bänden
bleibt 
unverzichtbar.
Verzichten sollte man aber auf vollmundige Ankündigungen und den Wunsch, 
Ad-hoc-Weltneuheiten einzuführen.
Entwicklungsfähige Lösungen mit Standardsoftware, die frühzeitig nutzbar
sind, gibt es.

Noch ist es zu früh, über den KOBV Näheres zu sagen.
Aber einige der am VÖBB Beteiligten nehmen heute schon Wetten entgegen, daß
es 
in ein, zwei Jahren den wissenschaftlichen Bibliotheken nicht anders
ergehen wird 
als heute den öffentlichen.

Das wäre verhängnisvoll und ist noch zu verhindern.

Eine Revision der Bibliothekspolitik scheint überfällig. 

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Frohe Pfingsten und einen ertragreichen Bibliothekartag wuenscht 

Marcel Brannemann

- Bundeskartellamt - 





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