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Poessnecker Kirchenbibliothek



Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

im Zusammenhang mit den Vorfaellen an der NEKB, ist durch den Beitrag
von Herrn Petter ueber den Verkauf der Poessnecker Inkunabelbestaende,
eine aus meiner Sicht so nicht hinnehmbare Parallelitaet beider Faelle
assoziiert worden. Herr Petter hat, wie Herr Graf schreibt, den
?erschreckenden Fall sorgsam dokumentiert?, diese Sorgfalt bezieht sich
bedauerlicherweise aber nur auf die Folgen und Auswirkungen. Deshalb
moechte ich an dieser Stelle die Hintergruende des Inkunabelverkaufs
darstellen, muss mich aber, da neu in der Liste, noch kurz vorstellen.
Ich heisse Ralf Kretschmer und arbeite seit Oktober 1996 als
Bibliothekar im Landeskirchenarchiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche
Thueringens in Eisenach. Den Verkauf der Inkunabeln habe ich deshalb nur
noch in seinem letzten Stadium verfolgen koennen. Durch Gespraeche mit
dem damaligen Leiter des Landeskirchenarchivs, Dr. Schenk, der heutigen
Leiterin, Frau Lampe, aber auch durch die Einsicht der entsprechenden
Akten, glaube ich trotzdem, mir ein ausreichend gutes Bild verschafft zu
haben. Lassen  Sie mich den Vorgang kurz darstellen:

Im April 1993 wurde die Poessnecker Kirchenbibliothek aus
sicherheitstechnischen Gruenden dem Landeskirchenarchiv als Depositum ?
selbstverstaendlich unter Wahrung des Eigentumsrechts ? zur dauernden
Aufbewahrung übergeben.
Im Mai 1996 beantragte die Kirchgemeinde Poessneck beim
Landeskirchenrat, Teile ihrer Kirchenbibliothek (naemlich die
Inkunabeln) verkaufen zu duerfen, um auf diese Weise Komplementaermittel
für Staedtebaufoerderungsmittel aufbringen zu koennen. Die Kirchgemeinde
stand zu diesem Zeitpunkt vor der Aufgabe, zwei denkmalgeschuetzte, aber
baufaellige, Kirchen in Poessneck und Poessneck-Juedewein in einem
Umfang von mehreren Millionen Mark restaurieren zu lassen.
(Anm.: Kirchgemeinden sind zwar juristisch selbstaendige
Koerperschaften, nach dem Vermoegensverwaltungsgesetz unserer
Landeskirche ist Kunst- und Kulturgut jedoch prinzipiell vor Verkauf
geschuetzt. Jede Ausnahme muss beim Landeskirchenrat beantragt werden.)
Der Landeskirchrat gab, gegen die Einwaende des damaligen Leiters des
Landeskirchenarchivs, Dr. Schenk, die sich etwa mit der Argumentation
Herrn Petters decken, dem Ansinnen der Kirchgemeinde nach, mit der
Vorgabe, das die Erloese aus dem Verkauf zweckgebunden dem Denkmalschutz
in der geplanten Form zugute kommen muessen.
Das nenne auch ich schwarze Ironie, dass man ein
Kulturgut hergeben musste, um ein anderes zu erhalten, aber
Landeskirchenrat und Kirchgemeinde sahen wohl keinen anderen Weg.
(Anm.: Thueringer Gemeinden besitzen insgesamt ca. 1450 historische
Kirchenbauten, die sich teilweise in einem katastrophalen Zustand
befinden. Der Krieg und 40 Jahre DDR, eine Zeit in der noch nicht einmal
der Wohnungsbedarf ausreichend abgedeckt werden konnte und Kirche
sowieso mehr als Klotz am sozialistischen Bein verstanden wurde,
hinterliessen natuerlich Spuren. Der Verkauf fiel dazu in die Zeit der
"Haushaltskonsolidierung" unserer Landeskirche, einer Zeit also, als in
der aus Gruenden fehlender Finanzen z.B. in der landeskirchlichen
Verwaltung ein Drittel der Stellen gestrichen werden mussten.)
Den Verkauf fuer die Kirchgemeinde zu vermitteln, wurde wiederum Dr.
Schenk beauftragt. Seine Intension war es, dass, wenn schon verkauft
werden muss, die Inkunabeln (31 Werke in 29 buchbinderischen Einheiten)
geschlossen, wenn moeglichst in Thueringen zu verkaufen waeren, um so
wenigstens mittelbar die historische Provenienz zu erhalten. Der Kaeufer
fand sich in der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha, im Land
Thüringen also, wohin die Baende im November 1996 verkauft wurden. Es
gab uebrigens sehr wohl auch Angebote von grossen (westdeutschen)
Antiquariaten.
Der Rest der Kirchenbibliothek befindet sich weiterhin als Depositum
hier im Landeskirchenarchiv.

Soweit kurz zur Geschichte, es wird aber wohl deutlich, dass die Faelle
Hamburg und Poessneck nicht zu vergleichen sind:

1. Nicht Archiv oder Bibliothek hat verkauft, sondern die Kirchgemeinde
2. Historische Provenienz fuer Forschung nachvollziehbar, kein Verkauf
in Privathand
3. Von Verstreuung keine Rede. Inkunabeln sind geschlossen in der FuLB
Gotha im Besitz des Landes Thueringen!

Der Verkauf der Inkunabeln ist aus den von Herrn Petter ausfuehrlich
genannten Gruenden, aber auch aus meiner Sicht, ein tragischer Verlust
fuer die Kirchgemeinde- und die gesamte Stadt Poessneck. In diesem Fall
von Zerstoerung einer historischen Kirchenbibliothek zu sprechen, hielte
ich jedoch aus o.g. Gruenden fuer ueberzogen.
Sicher, hier wurde eine historisch gewachsene Bibliothek zunaechst
entwurzelt und spaeter geteilt. Das tut weh, ich denke auch und vor
allem der Kirchgemeinde Poessneck. Aber es war kein Ausverkauf und von
Geldgier kann man wohl gar nicht ausgehen. Zudem ist versucht worden,
diesen schmerzlichen Akt ertraeglich zu gestalten. Es ist zutiefst
bedauerlich, dass die Kirchgemeinde Poessneck und die Landeskirche keine
anderen Mittel für die Instandsetzung ihrer Gotteshaeuser ausschoepfen
konnte, insofern will ich mich dem Satz von Herrn Petter wohl
anschliessen:
Was ist bloss los in unserem Land?
Nun breche seinen Stab wer will, ich verbleibe

mit nachdenklichen Gruessen

Ralf Kretschmer




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