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E-Mediaevistik - Teil 1



Vorab ein Referat zum Bamberger mediaevistischen Kolloquium ueber neue
Medien heute Nachmittag:
http://www.mittelalterzentrum.uni-bamberg.de/

Klaus Graf: E-Mediävistik im Spannungsfeld von Wirtschaftsinteressen und
Informationsfreiheit

Wir alle wissen: Mittelalterliche Autoren haben schamlos abgeschrieben.
Sie haben sich fremdes Geistesgut bedenkenlos zu eigen gemacht und
meistens auf korrekte Quellenangaben verzichtet. Heute bestimmt § 63
Absatz 1 deutsches Urheberrechtsgesetz: "Wenn ein Werk oder ein Teil
eines Werkes in den Fällen des § 45 Abs. 1 [und weiterer Paragraphen,
deren Nennung ich Ihnen erspare] vervielfältigt wird, ist stets die
Quelle deutlich anzugeben". Man sollte es kaum glauben: Die Werke
Wolframs von Eschenbach und anderer höfischer Klassiker enthalten in
ihren frühesten Handschriften keinerlei Fußnoten! "Mittelalterliche
Intertextualität", schreibt Elisabeth Lienert (Wolfram-Studien XV, 295),
"auch die höfischer Romane, ist kaum exaktes Zitieren, sondern lockere
Bezugnahme auf Texte, Texttraditionen, Gattungen, literarisches
Hintergrundwissen". Merkwürdigerweise hat es trotzdem im Mittelalter
keine Urheberrechtsprozesse gegeben.

Wer Texte aus dem Mittelalter am modernen Urheberrecht mißt, muß sich
den Vorwurf des Anachronismus gefallen lassen. Das Urheberrecht ist eine
moderne Erfindung. Seine Anfänge liegen in den Nachdruckprivilegien
früher Buchdrucker, die nicht ganz unabhängig von der Praxis der
herrschaftlichen Buchzensur betrachtet werden können. Im 18. Jahrhundert
wird dann der Gedanke des geistigen Eigentums ausgebildet, der eine
verhängnisvolle Analogie zwischen dem Sacheigentum und der
intellektuellen Produktion herstellt. In der Aufklärungszeit wurde eine
heftige literarische Debatte um das Verbot von Nachdrucken geführt. Es
lohnt sich durchaus, die damaligen Gegner eines Nachdruckverbots zu
lesen. So schrieb Johann Albert Heinrich Reimarus 1791: "Unleugbar ist
es, und dies sollte doch mehr beherziget werden, daß eben durch den
Nachdruck Aufklärung und Kenntnisse verbreitet werden, wo sie sonst nur
spät oder spärlich oder gar nicht hingelangt wären."  Und weiter:
"Monopolium und sicherer Absatz der Ware macht gewiß nie wohlfeilere
Ware, sondern gibt zu den größten Mißbräuchen Anlaß" (Gelehrsamkeit ein
Handwerk? 1982, 86).

Die juristische Darstellung der Geschichte des deutschen Urheberrechts
wird dominiert durch eine teleologisch eingeengte Sichtweise, die den
heutigen gesetzlichen Bestand des Urheberrechts und die gegenwärtige
juristische Dogmatik absolut setzt. Dazu muß man wissen, daß die
herrschende Lehre des Urheberrechts in Deutschlands von einer höchst
industriefreundlichen Lobby ausgebildet und entwickelt wurde. Bis vor
kurzem spielten die Kommunikationsgrundrechte des Grundgesetzes und
insbesondere die Informationsfreiheit hier so gut wie keine Rolle. Die
literaturwissenschaftliche Diskussion über das Urheberrecht, dessen
Entwicklung mit dem Geniekult des 18. und 19. Jahrhunderts eng
zusammenhängt, wird von Juristen meistens ignoriert. Ebensowenig
ernstgenommen wird von ihnen die Anti-Copyright-Bewegung, die sich unter
den Schlagworten Copyleft, Copywrongs oder Copyduty vor allem in Amerika
formiert und dort von Bürgerrechtsorganisationen getragen wird.
"Copyright ist Aberglaube - wie die Hexenverfolgung im Mittelalter."
Dieses Zitat stammt von dem Kybernetikprofessor Helmar Frank, der
ebenfalls formulierte: "Kopieren von Information ist kein Diebstahl,
sondern erhöhte Sicherung eines Kulturguts".

Heutzutage differenziert man im deutschen Urheberrecht, das sich in
entscheidenden Punkten vom angloamerikanischen Copyright unterschiedet,
zwischen dem Urheberpersönlichkeitsrecht und den Verwertungsrechten. Das
Persönlichkeitsrecht umfaßt vor allem das Recht auf Namensnennung und
den Schutz vor Entstellung des Werks. Die Verwertungsrechte umfassen
dagegen die kommerziellen Nutzungen: Vervielfältigung, Verbreitung,
öffentliche Wiedergabe usw.

Postmoderne Theorien, inspiriert von Michel Foucaults Aufsatz "Was ist
ein Autor?", haben auch in die Mediävistik Einzug gehalten und wurden
von Rüdiger Schnell in den Wolfram-Studien XV, 1996 einer kritischen
Sichtung unterzogen. Für Schnell haben beide Richtungen recht: sowohl
diejenigen, die im Mittelalter ihre Auffassung vom offenen Text
bestätigt finden, als auch diejenigen, die darauf beharren, auch im
Mittelalter habe es die Vorstellung vom Autortext gegeben, "der nicht
verändert und über den nicht frei verfügt werden dürfe" (58). Es gibt -
das ist einzuräumen - durchaus Vorläufer von Zügen des modernen
Urheberpersönlichkeitsrechtes in mittelalterlichen Konzeptionen von
Autorschaft. Eine differenzierte Betrachtungsweise ist hier wie auch
sonst gefordert, wobei auch nach Gattungen zu unterscheiden ist: So sind
Rechtstexte wesentlich weniger offen als Texte aus anderen Genres.
Jurisprudenz und Theologie haben auch schon im Mittelalter eigene
Zitiersysteme ausgebildet.

Zu erinnern ist natürlich auch an gattungsbedingte Anonymität etwa der
Heldenepik, die auf die Bedingungen des mündlichen Literaturbetriebs
zurückzuführen sein wird. Der von kollektiver Literaturproduktion
bestimmte ganze Bereich der Mündlichkeit und Folklore aber stellt noch
in der Gegenwart gleichsam ein Gegen-Paradigma zum kapitalistischen
Urheberrechtsbetrieb der westlichen Welt dar. "Wenn eine Geschichte
nichts taugt, gehört sie dem, der sie erzählt. Wenn sie aber von Wert
ist, dann gehört sie allen", sagt ein afrikanisches Sprichwort.

Man kann natürlich an den gelegentlich im Internet anzutreffenden
Parallelen zwischen der mittelalterlichen Literaturproduktion und den
Verhältnissen des digitalen Zeitalters Anstoß nehmen und auf die
gravierenden gesellschaftlichen Unterschiede verweisen. Der Blick in die
Geschichte kann jedoch den Blick dafür schärfen, daß die moderne
Rechtslehre vom geistigen Eigentum nicht notwendigerweise eine
naturgegebene Setzung darstellt, die überzeitliche Geltung beanspruchen
kann und für immer festgezurrt ist.

Wenn man sich von mittelalterlichen Kategorien inspirieren läßt, so kann
man dem römischrechtlichen Eigentumsbegriff, der auf die absolute
Sachherrschaft abhebt, etwa die genossenschaftlich akzentuierte
Konzeption der Allmende, des dörflichen Gemeineigentums,
gegenüberstellen. Die verfassungsgeschichtliche Forschung der letzten
Jahre hat ja auch im Mittelalter nicht nur herrschaftliche Hierarchien
vorgefunden, sondern das Augenmerk wieder verstärkt auf
genossenschaftliche oder bündische Elemente gelenkt. Ich nenne nur die
Kommunalismus-Theorie von Peter Blickle.

Mittelalterliche Texte gehören heute zu dieser Allmende, sie sind
urheberrechtlich gesprochen gemeinfrei, denn § 64 UrhG sagt eindeutig:
"Das Urheberrecht erlischt siebzig Jahre nach dem Tod des Urhebers".
Statt gemeinfrei kann man auch, ein Schlagwort aus dem Software-Bereich
aufnehmend, "public domain" sagen. Der Bundesgesetzgeber hat hier eine
klare Entscheidung gegen ein ewiges Urheberrecht getroffen. Die
geschützen Werke seien, so die amtliche Begründung des Gesetzes, "ihrer
Natur nach Mitteilungsgut" und müssten nach einer angemessenen Frist
"der Allgemeinheit frei zugänglich sein".

Es gibt allerdings eine Ausnahme, § 71 UrhG: "Wer ein nicht erschienenes
Werk nach Erlöschen des Urheberrechts erlaubterweise erstmals erscheinen
läßt oder erstmals öffentlich wiedergibt, hat das auschließliche Recht,
das Werk zu verwerten". Während der vorangehende § 70 Ausgaben
urheberrechtlich nicht geschützter Werke und Texte 25 Jahre lang
schützt, bezieht sich diese Vorschrift mit der gleichen Schutzfrist auf
die sogenannte editio princeps von Werken. Beide Normen sollen die
editorische Tätigkeit fördern.

Die Frage stellt sich aber, ob die Editoren von diesen Paragraphen auch
tatsächlich wissen. Darf ich diejenigen um Handzeichen bitten, die schon
einmal davon gehört haben? Vielen Dank!

Praktische Bedeutung besitzen beide Paragraphen vor allem im Bereich der
Musikedition. Die entsprechende Verwerterlobby hat es denn auch
geschafft, das deutsche Erstveröffentlichungsrecht der editio princeps
über die EU-Schutzdauerrichtlinie von 1993 auch anderen europäischen
Staaten aufzudrängen, die es bislang noch nicht kannten. In der Schweiz
existiert bis heute ein solches Recht nicht, ohne daß vom
Darniederliegen wissenschaftlicher Editionen in diesem Alpenland etwas
bekannt geworden wäre.

Der Schutz der editio princeps funktioniert nach dem Grundsatz: Wer
zuerst kommt, mahlt zuerst. Dies ist mit der Forschungsfreiheit des
Grundgesetzes kaum zu vereinbaren, denn dies bedeutet nichts anderes,
als daß der Ersteditor unabhängig von der wissenschaftlichen Qualität
seiner Ausgabe und unabhängig vom Vorliegen einer textkritischen
Bearbeitung andere von Rechts wegen für fünfundzwanzig Jahre lang davon
abhalten darf, den Text besser oder nochmals  zu edieren. Arbeiten zwei
Wissenschaftler parallel am gleichen Text, so kann derjenige, der ihn 
zuerst publiziert, den anderen an der Drucklegung hindern. Selbst dem
stockkonservativen Schrickerschen Kommentar geht die Gesetzesänderung
von 1995 mit ihrer weitgehenden "Monopolisierung des aufgefundenen
Werks" etwas zu weit.

Im Oktober wurde von Christie's in Amsterdam ein der Forschung bislang
völlig unbekanntes, um 1500 entstandenes Epitaph der Nürnberger Familie
Wolf von Wolfsthal aus dem Besitz der Hohenlohe-Schillingsfürst
versteigert, eine Darstellung ihrer Eheverbindungen seit der Stauferzeit
und ein bedeutsames Zeugnis für ihre Bemühungen, ihren sozialen Aufstieg
durch Konstruktion eines adeligen Herkommens abzusichern - der Verbleib
dieses Kulturgut ist unbekannt. Wäre es mir gelungen, vor der
Versteigerung ein Bild dieses Kunstwerks zu publizieren - die editio
princeps ist nicht auf Texte beschränkt -, so hätte mir das Auktionshaus
5 % des Versteigerungserlöses, das sogenannte Folgerecht nach § 26 UrhG
entrichten müssen - wenn denn die Niederlande das deutsche Folgerecht
anerkennen würden, was sie aber nicht tun. Knapp vorbei, ist halt auch
daneben.

Indem der Gesetzgeber in § 71 von Werken und nicht wie in § 70 von
Texten spricht, macht er das moderne Kriterium der für Werk nach der
Gesetzessystematik zu fordernden persönlichen geistigen Schöpfung - was
immer das sein mag - verbindlich und dies heißt nichts anderes, als daß
er verlangt, einen zutiefst anachronistischen Maßstab an
mittelalterliche Literatur und Kunst anzulegen, will man sich auf die
Vorschrift berufen.

Die Gesetzesbegründung nannte auch alte Märchen, Sagen, Volkslieder und
Volkstänze - obwohl nach dem Stand der volkskundlichen Forschung von
1965 davon ausgegangen werden mußte, daß es sich dabei eben nicht um
persönliche geistige Schöpfungen, also Werke handelt, sondern um
kollektives Volksgut. Damals betrug die Schutzfrist aber auch nur zehn
Jahre. 

Der Gesetzgeber gewährt also mit der Vorschrift über die
Erstveröffentlichung einen fragwürdigen Finderlohn. Vermutlich werden
die Ministerialräte bei der Vorbereitung des 1965 erlassenen
Urheberrechtsgesetzes etwas davon gehört haben, daß es Leute gibt, die
unveröffentlichte alte Texte herausgeben. Obwohl es exzellente
rechtshistorische Editionen gibt, ist die juristische Literatur zu
diesem urheberrechtlichen Problemkreis von einer erschreckenden Ignoranz
hinsichtlich der editionswissenschaftlichen Praxis. Diese Herren bleiben
schön unter sich und regeln die uns als Editoren betreffenden
Rechtsverhältnisse auch ohne spezifische Sachkenntnis.

Vergessen wir § 71 also ganz schnell wieder. Er behindert nur die
Forschung und ist für die Textwissenschaften bislang praktisch
bedeutungslos, da wissenschaftliche Editionen in aller Regel aufgrund
der in sie einfließenden persönlichen kreativen Leistung ihres Editors
die normale Schutzfrist 70 Jahre post mortem auctoris genießen.

(Forts. folgt)


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.